Alt lehrt jung
Nicole de Silva will eigentlich nicht groß erzählen. Es gehe hier ja nicht um sie, sondern um ihr Team, argumentiert sie. Das allein sei wichtig. Doch dann kann sie ihren Stolz doch nicht verbergen. Über Merve Balaban, 22 Jahre alt, die sich lange nicht vorstellen konnte, auf einer Intensivstation zu bestehen. Und Michael Roppel, 59 Jahre alt, seit drei Jahrzehnten Intensivpfleger, der am Ende seiner Kräfte war. Beide sind auf der C 61 geblieben. Und das hat viel mit Nicole de Silva zu tun.
Als Merve Balaban im dritten Ausbildungsjahr für acht Wochen auf die C 61 kommt, fällt sie gleich zu Anfang positiv auf. Sie stellt Fragen, viele Fragen, immer wieder. Das Team behält sie im Auge. Nicht weil man ihr nichts zutraute, im Gegenteil. „Wir suchen nach Menschen, die viele Fragen stellen“, sagt Nicole de Silva. „Unsere Tätigkeit ist komplex. Wer hier kaum Fragen hat, ist uns suspekt.“ Diejenigen, die glauben schon vieles zu wissen, nennt Nicole de Silva augenzwinkernd die „Träger des Lichts, für die wir hier keine Verwendung haben“.
Am Ende der acht Wochen bekommt Merve Balaban so etwas wie den Ritterschlag. „Wir sehen dich hier im Team“, sagt de Silva, doch ihr Gegenüber zögert. Merve Balaban sieht diesen Berg an Verantwortung, den man als Pflegekraft auf einer Intensivstation bewältigen muss, und möchte lieber auf einer Normalstation beginnen. Diese Aussage bestärkt Nicole de Silva nur noch mehr darin, in Balaban die Richtige gefunden zu haben. „Den Berg zu erkennen, ist der erste Schritt. Merve hat eine gute Selbsteinschätzung.“
»Der Respekt vor der Tätigkeit ist wirklich wichtig«,
sagt Nicole de Silva.
Merve Balaban bleibt der Station auch erhalten, weil sie Mentoren an die Seite bekommt. Erfahrene Kollegen und Kolleginnen, die immer ansprechbar sind und mit ihr die Schicht arbeiten. Das Gefühl, unter Beobachtung zu stehen, weicht schnell der Gewissheit, nie allein gelassen zu werden. Merve Balaban schafft etwas, was sie sich kurz zuvor nicht zugetraut hatte: Direkt nach der Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin auf einer Intensivstation zu arbeiten und den Berg an Verantwortung Stück für Stück zu erklimmen. Nach nur einem Jahr auf der Intensivstation C 61 zieht sie ein klares Fazit. „Ich möchte auf keiner anderen Station arbeiten“, sagt sie und lächelt.
Ein Laie kann nicht erkennen, dass Merve Balaban die zweijährige Fachweiterbildung zur Intensivpflegekraft erst noch absolvieren muss. Sie arbeitet zügig, ist eher zurückgenommen, spricht aber immer wieder mit dem Patienten und erklärt, was gerade passiert. Sie stimmt sich mit ihrem aktuellen Mentor Krim Boudra ab und dokumentiert exakt ihre Arbeit auf großen Formblättern mit engen Tabellen. Und sie stellt weiterhin Fragen.
Kurzzeitig nervös wird Merve Balaban nur, als sie für diesen Artikel fotografiert wird. Aber auch das hat sich nach einer guten Minute erledigt. „Sie wird ihren Weg gehen“, sagt Stationsleitung Nicole de Silva. „Wir freuen uns sehr darauf.“
Als Merve Balaban auf die C 61kommt, hat Michael Roppel die Station schon fast hinter sich gelassen. Drei Jahrzehnte auf der Intensivstation haben bei ihm Spuren hinterlassen. „Unsere Arbeit ist komplexer geworden, die Zeitfenster kürzer, die Krankheitsbilder schwerer. Ich wollte die Verantwortung irgendwann nicht mehr in dieser Form weitertragen“, erzählt Roppel mit ruhiger Stimme.
„ DAS IST DER ORT, ÜBER DEN WIR UNS DEFINIEREN“, SAGT NICOLE DE SILVA ÜBER DAS PATIENTENBETT.
Nicole de Silva merkt, wie Michael Roppel nach einer Veränderung sucht. „Als großes Klinikum müssen wir offen für Alternativen sein, gerade bei einer so langen Zugehörigkeit. Wir brauchen immer ein offenes Ohr“, sagt de Silva. Michael Roppels Expertise möchte sie keinesfalls verlieren.
»Dann gehen dreißig Jahre Erfahrung einfach so durch die Tür«,
sagt de Silva.
Sie führt Gespräche mit der Pflegedienstleitung und schafft die Voraussetzung für eine Position, für die es bislang noch keinen Namen gibt. Die „Zentralfunktion“, wie de Silva sie behelfsweise nennt, ist an der Schaltstelle der Intensivstation angesiedelt. Dort, wo alle Informationen zusammen fließen, permanent die Telefone klingeln und die täglichen Übergaben stattfinden. Es ist die geografische Mitte der Station. An diesem Ort kann sie sich Michael Roppel gut vorstellen. „Wir brauchen dort jemanden, der den Überblick behält und den Druck herausnimmt, wenn es bei uns richtig voll wird“, sagt de Silva.
Heute managt Michael Roppel die pflegerischen Abläufe auf der Station. Kommt ein Anruf, spricht er mit jahrzehntelanger Erfahrung. Sein Ansehen bei den Medizinern ist so groß, dass er eine Entscheidung auch mal hinterfragen kann. „Wie viele gute Intensivpflegekräfte fühlt er oft die Dinge, bevor die Parameter es anzeigen“, sagt Nicole de Silva. Und wenn die Kollegen in die Pause gehen, kann er kurzfristig die Betreuung der Patienten übernehmen. Kurzum:
Er hält dem Team den Rücken frei. Fast könnte man sagen, er habe sich neu gefunden.
Ungefragt berichtet Michael Roppel von einem zwölfjährigen Jungen, der vor ein paar Jahren auf der Holländischen Straße in Kassel angefahren wurde.
»Der ist wieder zurück im Leben«,
sagt Roppel. Und sein Blick sagt: Den Jungen haben wir hier auf der C 61 wieder hinbekommen. „Deswegen machen wir alle diesen Job“, fügt er noch hinzu.
Wer nach dreißig Jahren im Beruf so spricht, ist mit Leib mit Seele dabei. Michael Roppel wird noch gebraucht.