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Ich lebe

Als Azra auf die Welt kommt, ist sie noch nicht bereit dafür. Die Neonatologie ist auf solche Fälle spezialisiert. Und Azra lässt sich nicht unterkriegen.

Azra ist eine Kämpferin. Sie wiegt 490 Gramm bei ihrer Geburt. Das ist weniger als zwei Stück Butter.

Ein Geräusch begleitet Baris Celiker seit dem 16. April 2019. Es ist ein Bimmeln, das aus dem Überwachungsmonitor kommt. Wenn das Herz seiner Tochter Azra nicht routiniert schlägt, die Sauerstoffsättigung im Blut abnimmt, wenn also Azra nicht ausreichend atmet, dann senden die Geräte diesen Alarm. Erst gibt es einen Voralarm, wenn sich die Werte verschlechtern, gefolgt von einem mit roter Farbe unterlegten Alarm. „Ich habe es immer noch in den Ohren“, sagt Celiker Monate nach Azras Geburt Mitte April, als sie längst friedlich zu Hause auf der Wohnzimmercouch schläft. Heute kann er darüber schmunzeln.

Der rote Alarm ertönt bei Azra vor allem, wenn sie aus dem Fläschchen rinkt. Trinken, atmen, trinken, atmen – diese Reihenfolge klappt anfangs nicht reibungslos. Es fühlt sich wie eine halbe Ewigkeit an, bis die Werte wieder hochgehen und der Monitor verstummt. „Wir mussten lernen, ruhig zu bleiben, denn die Schwestern waren es ja auch immer“, sagt Baris Celiker über sich und seine Frau Yeliz (beide 32). Denn ein Alarm bedeutet nicht gleich Atemstillstand. Und die Fachpflegerinnen für Anästhesie, Intensivpflege und Neonatologie, wie die Neonatologieschwestern offiziell heißen, wissen die Monitormeldungen einzurordnen. „Azra, atmen ist erste Bürgerpflicht“, ruft Andrea Wohlfahrt, als sie ins Zimmer kommt. Und als würde sie die 25 Jahre Berufserfahrung der Neonatologieschwester anerkennen, holt Azra tief Luft und das Bimmeln verschwindet. „Vertrauen lernen“ – so beschreibt die pflegerische Leitung der Neonatologie Gabriele Dolk diesen Prozess.

Azra wiegt 490 Gramm bei ihrer Geburt. „Das ist weniger als zwei Stück Butter“, sagt Dr. Andreas Worms, Sektionsleiter Geburtshilfe in der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe des Klinikums Kassel. Sie kommt in der 23. Schwangerschaftswoche zur Welt und ist ein Neugeborenes mit extremer Unreife, wie die Mediziner sagen. Zur Einordnung: Alle Geburten bis zur 32. Schwangerschaftswoche und mit einem Gewicht unter 1.000 Gramm gelten als extreme Frühgeburt. Im Normalfall kommt ein Baby in der 40. Schwangerschaftswoche zur Welt.

Ende März 2019 wird Yeliz Celiker mit einer Schwangerschaftsvergiftung im Klinikum aufgenommen. Sie hat einen zu hohen Blutdruck und ihr Kind ist nahezu unterversorgt. „Der kleine Körper fährt dann das Wachstum runter und durchblutet vor allem das Hirn. Es ist eine Überlebensstrategie“, sagt Dr. Worms. Drei Wochen liegt Yeliz Celiker im Klinikbett, absolute Ruhe ist angeordnet. Als ihre Tochter sich ankündigt, wird Celiker vorsichtshalber intubiert, also beatmet. Die Geburt ist eine sogenannte Notsectio, ein Notkaiserschnitt.

Vom Kreißsaal auf die neonatologische Intensivstation F 51 sind es nur wenige Meter. Kein Fahrstuhlfahren, kein anderes Gebäude, einfach nur den Flur runter. Von der ersten Sekunde an ist Azra intensivmedizinisch versorgt und umsorgt. „Sie war das erste Kind unter 500 Gramm, das ich mit betreut habe“, sagt Neonatologieschwester Lena Werner (26).

»Und Azra war ein Musterfrühchen.«

Die ersten zehn Tage im Leben eines Frühgeborenen gelten als besonders kritisch. „Stellen Sie sich vor, Sie haben eine Yacht in Hamburg liegen und wollen damit über den Atlantik“, sagt Professor Andreas Jenke, der seit Jahresanfang die Klinik für Neonatologie und Pädiatrie leitet. „Die Lenzpumpe fehlt noch und der Lack ist auch noch nicht aufgetragen, aber Sie segeln schon los. Bis zum Ärmelkanal läuft alles gut, doch dann kommt die oft stürmische Keltische See. Und es ist noch ein weiter Weg bis nach Amerika.“ So könne man sich das Leben eines Frühchens vorstellen. Die Wahrscheinlichkeit für Komplikationen ist hoch.

Doch Azra übersteht diese Zeit ohne Probleme. Während ihre Mutter Yeliz noch unter dem hohen Blutdruck leidet und kaum ein paar Meter gehen kann, nimmt Azra stetig an Gewicht zu, teilweise 30 Gramm innerhalb eines Tages. Für die Neonatologieschwestern kommen Kind und Eltern stets im Paket. „Wir betreuen immer beide Seiten, denn oft müssen sich Mutter und Kind erst aneinander gewöhnen“, sagt Neonatologieschwester Louisa Völxen (24).

»Die Eltern haben Angst, etwas bei ihrem Baby falsch zu machen, weil es einfach so zierlich ist.«

Waschen, füttern, Windeln wechseln, anziehen, baden, Medikamente verabreichen – die Schwestern betreuen Eltern und Kind so lange wie nötig.

In dieser Phase bauen sich enge Bindungen auf. Das ist nicht jedermanns Sache. „Empathie ist äußerst wichtig bei uns. Wir freuen uns mit den Eltern. Und manchmal trauern wir auch mit ihnen. Dann ist es auch okay, Tränen fließen zu lassen“, sagt Louisa Völxen.

Bunter Kreis Kassel hilft auch Azra

Der Bunte Kreis ist eine sozialmedizinische Nachsorgeeinrichtung, die frühgeborene, behinderte, schwerst- und chronisch kranke Kinder und Jugendliche auf dem Weg von der stationären Behandlung ins eigene Zuhause begleitet. Das Angebot reicht von der Anleitung zur Pflege bis zur psychologischen Betreuung in Krisensituationen. Das Team setzt sich aus Kinderärzten, Kinderkrankenschwestern, Psychologen, Sozialpädagogen und Seelsorgerinnen zusammen.

www.bunter-kreis-kassel.de

Warum macht man einen Job, der einem emotional so viel abverlangt? Bei dem der Verantwortungsgrad so hoch ist? Lena Werner zuckt mit den Schultern. „Man ist Neo-Schwester, oder man wird’s auch nicht mehr“, sagt sie. Das klingt sehr einfach, aber es trifft den Punkt. Denn Neonatologie ist oft auch eine Gefühlssache. „Eine gute Schwester spürt, wenn etwas mit dem Kind nicht stimmt, bevor es die Geräte anzeigen“, sagt Professor Andreas Jenke. „Und wenn das so ist, dann will ich das wissen.“ Er glaubt, dass die Pflegekräfte ihr Potential noch nicht gänzlich ausschöpfen:

»Das Team darf ruhig noch selbstbewusster auftreten. Die Schwester steht vorn.«

Seit seinem Arbeitsbeginn im Februar 2019 hat er die Abläufe auf der Station angepasst. Die Pflegedokumentation liegt jetzt immer obenauf. Und bei den Chefarztvisiten sprechen nicht nur die Mediziner. „Die Pflege kennt das Kind am besten. Wie fühlt es sich heute für sie an? Das ist oft die wichtigste Frage“, sagt Professor Jenke, der auch die Eltern bei den Visiten dabeihaben möchte.

Für Louisa Völxen und Lena Werner ist diese Situation noch ungewohnt. „In so einer Runde zu sprechen waren wir bisher nicht gewohnt“, sagt Völxen. Doch für Stationsleitung Gabriele Dolk steht fest: „Professor Jenke schätzt die Teamarbeit in besonderer Weise. Das tut hier allen gut.“

Im Interview:
Prof. Andreas Jenke

Klinik für Neonatologie und allgemeine Pädiatrie

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