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Medizin höchst persönlich

Elena Buzic und Professor Dr. Martin Wolf sitzen auf einer Bank vor dem Untersuchungsraum, ihre Blicke treffen sich. Die Mimik ist vergnügt, fast schon verschwörerisch. Man könnte meinen, sie hätten jemandem einen Streich gespielt und seien damit noch einmal davongekommen. Und irgendwie ist das auch so.

Der „Streich“ beginnt 2015. Er gilt dem Krebs und der Diagnose, vielleicht noch ein halbes Jahr zu leben. Um Mitternacht war Elena Buzic in die Zentrale Notaufnahme gekommen, am folgenden Morgen sah Professor Wolf die ersten Bilder aus dem MRT. Der Krebs war überall: im Kopf, in der Leber, im Beckenknochen. „Es sah nicht gut aus“, sagt Professor Wolf, Direktor der Klinik für Onkologie und Hämatologie, der nicht zu Übertreibungen neigt. Und es kommt noch schlimmer: Eine sofort eingeleitete Chemotherapie schlägt nicht an. Nach 17 Tagen in der Klinik zeigen sich keine Veränderungen, der Tumor wuchert ungehindert weiter. Professor Wolf muss einen neuen Behandlungsansatz finden. Die Zeit arbeitet gegen seine Patientin.

»Ich habe keine Angst vor dem Tod«,

sagte schon damals die heute 47-jährige Buzic. Die vergangenen vier Jahre haben Spuren hinterlassen, doch Elena Buzic wirkt auffallend stark und aufgeräumt, ihre positive Einstellung lässt alles einfach aussehen. Als sie die
Krebsdiagnose bekam, musste sie zuerst ihren Mann beruhigen, der verzweifelt war. Buzic nahm die Nachricht gefasst auf.

Mit einer wirkungslosen Chemotherapie konfrontiert, setzt Professor Wolf zusammen mit dem Institut für Pathologie (Seite 20) neue Untersuchungen an. Zwei Wochen später steht fest, dass ein spezieller Genschaden die Tumorzellen wuchern lässt. Diese Information führt ihn zu einem Medikament, das gerade erst eingeführt wurde und in Deutschland nur über eine internationale Apotheke erhältlich ist. „Vereinfacht gesagt stellt das Medikament den Genschaden kalt und blockiert das Tumorwachstum“, erklärt Professor Wolf und blickt zu Elena Buzic. „Wäre der Krebs zwei Jahre vorher ausgebrochen, würde Frau Buzic heute nicht an diesem Gespräch teilnehmen.“

Die personalisierte Medizin am Tumorzentrum des Klinikums Kassel, also die individuell zugeschnittene Therapie, hat sie überleben lassen. „Eine herkömmliche Chemotherapie wirkt wie ein Rundumschlag im Körper, alles wird angegriffen“, sagt Professor Wolf. Der Haarausfall bei onkologischen Patienten ist das offensichtlichste Merkmal.

»Mit der personalisierten Medizin können wir die Therapie deutlich gezielter ansetzen“,

so Wolf weiter. Außerdem war Elena Buzic schon am zweiten Tag nach ihrer Einlieferung Thema in der Tumorkonferenz. Ihr Krankheitsbild wurde von Medizinern aus vier Fachrichtungen besprochen, die später ein weiteres Problem erkannten. Obwohl sich das Tumorgewebe aufgrund des neuen Medikaments schon zurückbildete, war es bis in die Wirbelsäule vorgedrungen und drückte auf das Rückenmark. Elena Buzic, auf dem Weg der Besserung, drohte eine unmittelbare Querschnittslähmung.

WÄRE DER KREBS ZWEI JAHRE VORHER AUSGEBROCHEN, WÜRDE ELENA BUZIC NICHT AN DIESEM GESPRÄCH TEILNEHMEN.

Es sind solche Situationen, in denen eine Klinik der Maximalversorgung ihre Trümpfe ausspielt. Es beginnt mit einem Anruf von Professor Dr. Martin Wolf bei seinem Kollegen Professor Dr. Wolfgang Deinsberger, der die Klinik für Neurochirurgie leitet. Noch am gleichen Abend wird bei Elena Buzic eine Rückenmarkentlastung vorgenommen. Ohne diese Operation würde sie heute im Rollstuhl sitzen.

Im Leistungsspektrum der Klinik für Neurochirurgie ist dieser Eingriff alltäglich. „Das ist Dienstgeschäft, so etwas machen wir nachts“, sagt Professor Deinsberger ohne Überheblichkeit. „Das sind dringende operative Notfälle, die der diensthabende Oberarzt zu jeder Tages- und Nachtzeit übernimmt. Ich kann jedem Tumorpatienten nur raten, in ein großes Zentrum wie unseres zu kommen“, sagt Professor Deinsberger, der 30 Jahre Erfahrung als Neurochirurg
mitbringt.

Vier Jahre nach der ersten dramatischen Diagnose lebt Elena Buzic weiter. Für Professor Wolf ist sie eine „irre Motivation“, denn noch können nicht alle Krebsarten individuell behandelt werden. „Wir schenken den Menschen Zeit und geben ihnen Hoffnung, ihre Ziele zu erreichen“, sagt Professor Wolf. Auch bei Elena Buzic war das so. „Ich wollte auf keinen Fall vor meinem Vater sterben. Kinder sollten nicht vor den Eltern gehen“, sagt Buzic. „Und ich habe es geschafft.“ 2016 beerdigte sie ihren Vater in der rumänischen Heimat.

Alle vier Wochen kommt Elena Buzic für eine Infusion ins Klinikum Kassel. Sie weiß, dass es keine Garantien gibt und der Krebs wieder ausbrechen kann. Sie sitzt kerzengerade auf der Bank, ihre Augen weichen nicht aus. „Ich habe keine Angst“, wiederholt Buzic.