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Weiter vorn

Für Krebspatient Kiran Urbschat war der 1. November ein Meilenstein.

Die Musik ist schon von der Straße aus zu hören. Der Einfahrt folgend, steht man nach wenigen Metern in einer leergeräumten Doppelgarage nahe Brilon im Sauerland, gefüllt mit Biertischgarnituren und Guter-Laune-Party-Musik. Zwei Dutzend Teenager tanzen durch den Raum, alle Hände sind in der Luft. Die Clique ist erstaunlich textsicher, allen voran Kiran Urbschat (visite Herbst 2019). Es ist der Abend vor dem 1. November, seinem 15. Geburtstag, der in Nordrhein-Westfalen ein gesetzlicher Feiertag ist. Und die Party hat gerade erst begonnen.

Kirans Vater Steffen Urbschat steckt kurz den Kopf zur Tür rein. Die hüpfende Menge nimmt er wohlwollend war. „Die sollen heute mal richtig Gas geben“, sagt er und lächelt: „Die Nachbarn wissen Bescheid.“ Vielleicht noch mehr als Kiran selbst freut er sich darüber, dass es an diesem Tag etwas zu feiern gibt. Ein halbes Jahr zuvor kommen Vater und Sohn abends im Klinikum Kassel an. Bei Kiran war nachmittags Hodenkrebs diagnostiziert worden, mit Metastasen im Bauch und in der Lunge. Er atmet nur noch flach. Die Familie ist im Ausnahmezustand.

Steffen Urbschat wird den Moment nie vergessen, als sie gegen 19 Uhr auf der Station F 71 ankommen. Dort wartet schon ein Team der Kinderonkologie, das gleich zur Sache kommt. Sie haben Fragen an Kiran, nehmen ihm Blut ab und richten für Vater und Sohn ein Zimmer her. Nichts davon hatten beide um diese Uhrzeit noch erwartet.

Das Team der F 71 gibt beiden Sicherheit: Egal wie schlimm es ist, wir gehen es an. Nicht morgen, nicht übermorgen, sondern jetzt – das ist die Botschaft. Steffen Urbschat schluckt auch heute noch, wenn er darüber berichtet.

»Ich hatte sofort das Gefühl, dass wir am richtigen Ort sind«,

sagt Urbschat. Die Menschen auf der Station F 71 – Ärzte, Pflegekräfte, Sozialarbeiter – werden in den kommenden Monaten zu ihren wichtigsten Bezugspersonen.

Ein Indikator für Kirans Genesung ist der sogenannte Tumormarker. Als er Mitte Mai 2019 im Klinikum Kassel ankommt, liegt dieser im siebenstelligen Bereich. Aktuell zeigen die Untersuchungen nur noch einstellige Zahlen an. Bleibt alles so, hat Kiran den Krebs besiegt.

Nach sechs Chemotherapien und zwei Operationen zur Entfernung von Metastasen stellt er an diesem Abend sicher, dass es seinen Gästen auf der Party an nichts fehlt. Es gibt reichlich Pizza und niemand sitzt lange vor einem leeren Glas. Seine Erkrankung war auch ein Lernprozess für die Clique. Wie umgehen mit jemandem, der plötzlich nicht mehr in die Schule kommt oder im Tor der Fußballmannschaft steht, der Gewicht verliert und kein Haar mehr am Körper hat? Der vielleicht nicht mehr wiederkommt. Mit dem Fest macht es Kiran seinen Freunden leicht. Mit ihnen steht er mitten im Leben, das an diesem Abend in einer Doppelgarage nahe Brilon tobt.

„Kiran ist ein Leitwolf, das war er schon im Kindergarten. Er kümmert sich“, sagt seine Mutter Anja bei einer Tasse Tee in der Küche. Ihr Sohn gehört nicht zu denen, die lange zögern. Bevor Kiran bremst, gibt er lieber Gas. Es ist seine Art, mit der Erkrankung und dem Leben überhaupt umzugehen. Vielleicht auch weil er weiß, dass die Ziellinie noch nicht überschritten ist.

Von draußen wird die Musik und das Gelächter lauter, es geht auf Mitternacht zu. Gleich wird Kiran offiziell 15 Jahre alt sein. Ohne die Menschen auf der Station F 71 am Klinikum Kassel wäre es dazu nicht gekommen.