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Wenn es wirklich zählt

Es gibt Momente, da entscheiden Minuten über das weitere Leben. Das Schockraum-Team der Interdisziplinären Zentralen Notaufnahme (IZNA) läuft dann zur Höchstform auf.

Die Atmosphäre ist nicht dramatisch, im Gegenteil. Der Schockraum kommt ruhig rüber, mal abgesehen von dem akustischen Alarm, der die akuten Mängel anzeigt: zu wenig Sauerstoffsättigung im Blut, zu geringer Blutdruck, ein kaum noch messbarer Puls. Die Patientin, vor drei Minuten bei der Ankunft in der Interdisziplinären Zentralen Notaufnahme (IZNA) noch halbwegs ansprechbar, reagiert nicht mehr. Ihr Kreislauf baut massiv ab. Im Fernsehen würde jetzt jemand Befehle durch den Raum rufen. Im richtigen Leben wird es weder laut noch hektisch.

Drei, später vier Ärzte und ebenso viele Pflegekräfte arbeiten konzentriert ihre Aufgaben ab. Es wird wenig gesprochen. Jeder weiß, was nötig ist, um die Patientin nicht zu verlieren. Der Boden des Schockraums ist übersät mit  aufgerissenen Verpackungen, in denen sich Spritzen und Medikamente befanden. Wenn für den Mülleimer keine Zeit bleibt, ist die Lage ernst.

Die ältere Patientin ist vom Rettungsdienst mit dem Leitsymptom „Luftnot“ angekündigt worden. Doch wo liegt die Ursache dafür? Sie soll sich kürzlich eine Erkältung eingefangen haben, aber das allein kann es nicht sein. Sie hat einen septischen Schock, also eine fortgeschrittene Blutvergiftung, die Lebensgefahr bedeutet. Die Patientin muss ins CT, den Computertomografen, der sich im Raum nebenan befindet. Die Mediziner benötigen dringend einen Blick ins Innere des Körpers, doch dafür ist die Frau nicht stabil genug. Drei kreislaufunterstützende Medikamente laufen am Anschlag. Sie wird intubiert, ein Schlauch wird in die Luftröhre eingeführt, um sie künstlich zu beatmen. Das Team bereitet sich auf eine Reanimation vor, falls ihr Herz aufhört zu schlagen. Der Schockraum ist ein besonderer Mikrokosmos, nicht nur im Klinikum Kassel.

Dinge, die außerhalb der Klinik zählen, haben hier keine Bedeutung.

Religion, Ethnie, Geschlecht, Beruf, sozialer Status – sie enden alle an der schweren Schiebetür. Wer durch sie geschoben wird, erhält professionelle Unvoreingenommenheit. Passend dazu sehen drinnen alle gleich aus. Kaum ein Mediziner trägt hier Arztkittel. Der blaue Kasack ist die Uniform der Notfallmedizin. Hierarchien sind in der IZNA nicht gänzlich aufgehoben, werden aber extrem flach gehalten. Die Oberärzte Dr. Beltschikow und Dr. Streiber werden nur Wadim und Nils gerufen – von allen. Ebenso die Pflegekräfte Sigrid Krüger, Horst Zaspel und Florian Mühlbauer.

Die beiden Ersteren sind schon eine halbe Ewigkeit in der Notaufnahme, der „Flo“, wie er von manchen genannt wird, erst seit vier Jahren.

Was zählt, ist die Fähigkeit, in einem Team zu arbeiten und über lange Zeit die Konzentration zu halten.

Der Internist Dr. Beltschikow, also Wadim, ist neben Chefarzt Dr. Klaus Weber der Leitwolf, den jede Gemeinschaft braucht. Ruhig und beruhigend zugleich, mit stabiler Mimik und Stimmlage, bilden beide den behandlerischen Mittelpunkt im Schockraum. Der Anästhesist Dr. Streiber, also Nils, verliert weder beim Arbeiten noch beim Sprechen unnötig Zeit. Schnelligkeit zeichnet auch alle Pflegekräfte aus. Sigrid Krüger, Horst Zaspel und Florian Mühlbauer stellen wenig Fragen. Sie sehen automatisch, was nötig ist. Und legen los.

Als die künstliche Beatmung läuft, stabilisiert sich die Patientin so weit, dass sie ins CT geschoben werden kann. Das erste Querschnittsbild ihres Brustkorbs erscheint auf den Monitoren und der Radiologe deutet sofort auf etwas am Rippenfell, das dort nicht hingehört. Die Mediziner tauschen Blicke aus, sie haben einen Verdacht. Zwei Minuten später ist die Patientin zurück im Schockraum. Dr. Beltschikow punktiert vorsichtig die Stelle neben der Lunge und zieht über eine Spritze eine gelbe Masse aus dem Körper: Eiter.

Jetzt ist klar, warum es der Frau so schlecht geht. Der Eiter ist wahrscheinlich die Folge einer verschleppten Erkältung oder gar Lungenentzündung. Die Patientin muss dringend in den OP, doch ihr instabiler Kreislauf würde das nicht durchstehen. Sie wird auf die Intensivstation C 72 verlegt, wo sie permanent überwacht wird. Das Schockraum-Team hat in den letzten 90 Minuten alles getan. Jetzt entscheidet die Zeit, ob sie es schaffen wird.

Tage später, während einer kurzen Kaffeepause in der Küche der IZNA, spricht Dr. Nils Streiber noch einmal über die Patientin. Er erwähnt den positiven Stress, den nicht nur er empfindet, wenn es im Schockraum auf jede Minute ankommt. Und schnell wird klar, dass diese Arbeit nicht für jeden gemacht ist. Selbstbewusstsein ist wichtig, aber auch eine gute Selbsteinschätzung. Der Wille, eine Herausforderung unter Zeitdruck zu meistern. Leben zu retten, wenn man pathetisch sein möchte.

»So eine Patientin ist der Grund, warum wir hier alle Notfallmedizin machen«,

sagt Dr. Streiber.

Dr. Wadim Beltschikow nickt zustimmend. Während er einen Schluck starken Bohnenkaffee nimmt, lässt er seine ausgestreckte Handfläche von links nach rechts gleiten. „Wir legen Wert auf flache Hierarchien“, sagt der Oberarzt. Nur so schaffe man es, komplexe Fälle wie den der Patientin gut abzuarbeiten. „Es funktioniert nur, wenn man mit guten Pflegekräften im Team arbeitet“, ergänzt Dr. Nils Streiber.

In einem getrennten Gespräch gibt Krankenpfleger Florian Mühlbauer das Kompliment zurück: „In so einem Team wird dann nicht viel gesprochen, denn jeder weiß, was zu tun ist. Wir arbeiten alle auf Augenhöhe.“ Das ist einer der Gründe, warum der 28-Jährige lange auf eine freie Stelle in der IZNA gewartet hat. Seit 2015 dabei, wurde er schon im vergangenen Jahr ins pflegerische Führungsquartett aufgenommen. Seine drei Kollegen – Sigrid Krüger, Horst Zaspel und Karsten Heß – haben zwar alle mehr Erfahrung, doch Florian Mühlbauer bringt eine lösungsorientierte Einstellung zur Arbeit, gepaart mit einem gesunden Schuss Demut vor der Sache, mit. „Ich fühle mich wohl im Schockraum, bin aber weit davon entfernt zu glauben, ich könne schon alles. Jede Schicht bringt eine neue Erkenntnis“, sagt Mühlbauer.

Doch zur IZNA gehört weit mehr als nur der Schockraum. Das Gros der nicht lebensbedrohlich erkrankten Patienten wird in fast vier Dutzend Behandlungsräumen tief im Innern der Notaufnahme versorgt. Dort den Überblick zu behalten, ist eine Kunst. Horst Zaspel geht alle zwei Stunden durch die Räume und spricht mit allen Patienten, auch wenn es nichts Neues zu vermelden gibt. „In diesem Job ist man auch zum Teil Therapeut und Psychologe“, sagt Zaspel.

Noch länger dabei als er ist Sigrid Krüger, für die die IZNA eine Herzensangelegenheit ist. Wie viele andere hat auch sie über die Jahre Schicksale gesehen, die man nicht mehr los wird. Doch sie ist darüber nicht zynisch geworden. Egal, ob der Patient alkoholisiert, schwerhörig oder renitent ist – sie erfahren ihre Fürsorge. In zwei Jahren wird Sigrid Krüger in den Ruhestand gehen. Das kann sich in der IZNA niemand so wirklich vorstellen. Sie selbst übrigens auch nicht.

Die Schockraum-Patientin mit der Blutvergiftung wird sich nicht erholen. In den 24 Stunden nach ihrer Einlieferung in die IZNA kümmert sich ein gutes Dutzend Menschen auf der C 72 um sie. Intensivpflegekräfte, Anästhesisten, Thoraxchirurgen, Gefäßchirurgen – sie lassen nichts unversucht. Ein ECMO-Team der benachbarten Intensivstation C 73 schließt sie an eine mobile Herz-Lungen-Maschine an, um ihre Organe zu entlasten. Sie schafft es noch in den OP, aber ihr Zustand bessert sich nicht. Das Klinikum Kassel zieht alle Register der Intensivmedizin, aber ihre Sepsis, die Blutvergiftung, ist zu weit vorangeschritten.

Das Team des Schockraums geht professionell mit der Nachricht um. Wer so etwas an sich herankommen lässt, besteht nicht lange in der IZNA. Sie verbuchen es nicht als Niederlage, eher als Erfahrung. „Das Team hat super gearbeitet“, sagt Chefarzt Dr. Klaus Weber fast beiläufig. Aber die Art, wie er es sagt, lässt Stolz erahnen. Auf Oberärzte, Assistenzärzte und über 40 Pflegekräfte, die die zahlenmäßig größte Notaufnahme in ganz Hessen am Laufen halten.

Jeden Tag 24 Stunden, 365 Tage im Jahr.

„Was auch immer für ein Notfall eingeliefert wird – wir können damit umgehen“, sagt Dr. Nils Streiber, dem hier niemand Arroganz unterstellen würde. Denn mit dem „wir“ meint er neben der IZNA die zahlreichen Fachabteilungen
im Klinikum Kassel, deren Vertreter in den Schockraum kommen. Darunter fallen vor allem die Kliniken für Anästhesie, Kardiologie, Neurologie und Unfallchirurgie. „Ohne die Kolleginnen und Kollegen könnten wir die Patienten nicht so schnell und umfassend behandeln“, sagt Chefarzt Dr. Klaus Weber. „Wir zählen aufeinander.“ Er sagt, wie es ist.

 

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