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Immer vorn

Kiran (14) ist ein Bewegungsmensch: er taucht, fährt Ski, ist Fußballtorwart. Bis er Anfang Mai keine Luft mehr bekommt.

Diagnose Krebs. Es beginnt mit einem Schmerz im linken Brustkorb.

Kiran hat das Gefühl, er bekommt keine Luft mehr. Als er auftaucht, überprüft sein Vater die Ausrüstung, findet aber keine Mängel. Kiran glaubt, er müsse mehr für seine Fitness tun. Doch die Episode ist schnell vergessen, der Tauchurlaub am Roten Meer geht weiter. Erst Wochen später werden sich Vater und Sohn wieder daran erinnern.

Kiran hat vor zwei Jahren seinen Tauchschein gemacht, zum frühestmöglichen Zeitpunkt. In der Ostsee bei Kühlungsborn, wo oft erschwerte Bedingungen herrschen. „Manchmal sieht man nicht mehr als eine Armlänge“, sagt Kiran, der heute 14 Jahre alt ist. Sein Vater Steffen Urbschat hat ihn an den Sport herangeführt. „Immer vorn“ – dort verortet er seinen Sohn im Leben. Ohne Ängste, mit Neugier und viel Selbstbewusstsein. Er konnte nicht ahnen, wie sehr Kiran diese Eigenschaften brauchen würde.

Als der Schmerz und die flache Atmung schlimmer werden, gehen sie zum Hausarzt, der Kiran direkt in eine größere Klinik weiterschickt. Am nächsten Tag, dem 14. Mai 2019, sieht Kiran dort eine Aufnahme seiner Lunge. „Das ganze Bild war weiß“, sagt er. Weiß sind die Metastasen, die sich aus dem Hoden über den Bauch nach oben ausgebreitet haben.

Der Schock setzt ein, Panik steigt auf. „Die Welt bleibt nicht stehen, sie dreht sich rückwärts“, notiert sein Vater später. Die Familie ist im Ausnahmezustand.

Man nennt ihnen mehrere Kliniken, die weiterhelfen können. Kassel hätte eine gute Kinderonkologie, wird gesagt. Vater und Sohn überlegen, die Nacht noch zu Hause in Brilon im Sauerland zu verbringen, entscheiden sich aber dagegen. Die Autofahrt nach Kassel wird die schlimmste ihres Lebens. Zwischendurch halten sie an und lassen die Tränen laufen. „Ich hätte nicht ans Steuer gedurft“, sagt Steffen Urbschat heute.

Es ist nach 18 Uhr, als sie im Klinikum Kassel ankommen. Der Vater glaubt, sein Sohn bekomme noch ein Zimmer zugewiesen, und das war’s. Doch als sie die Station F 71 der Kinderklinik betreten, wartet dort ein „Empfangskomitee“,
wie Kiran es nennt. Das Team der onkologischen Station beginnt gleich mit den Untersuchungen und führt erste Gespräche mit beiden. „Ich dachte, die sind um die Zeit doch schon längst im Feierabend“, sagt Urbschat. Er ringt mit
seinen Emotionen, als er von diesem Abend berichtet:

»Wir waren beide am Ende, aber die Station legte sofort los.«

Und Steffen Urbschat beginnt ein Tagebuch zu verfassen.

 

Über den 14. Mai 2019, den ersten Abend im Klinikum Kassel, heißt es am Schluss:

»Wir fühlen, dass wir in guten Händen sind.«

Am nächsten Morgen sieht Professorin Dr. Michaela Nathrath den neuen Patienten zum ersten Mal. „Durch die Metastasen in der Lunge litt Kiran unter schwerer Luftnot. Nicht mehr lange und er hätte beatmet werden müssen“, sagt sie. Doch bevor eine Chemotherapie verabreicht werden kann, muss Kiran einen Untersuchungsmarathon absolvieren. Im CT werden Aufnahmen von Bauch und Lunge gemacht, im Labor wird ein Blutbild erstellt. Kiran wird auf allen Stationen im Klinikum vorrangig behandelt, er gilt als Notfall. Steffen Urbschat beobachtet ein „Riesenteam an der Front und im Hintergrund“, das sich um Kiran kümmert.

Am Nachmittag hat die Familie einen Termin beim Chefarzt der Urologie Professor Björn Volkmer, der sich noch gut erinnert:

»Ich hatte noch keinen 14-Jährigen vor mir, der solch präzise Fragen gestellt hat.

Das Gespräch lief fast nur zwischen uns, die Eltern haben sich sehr zurückgenommen.“ Professor Volkmer ist ein guter Gesprächspartner, es entsteht schnell Vertrauen. Er erklärt Kiran, dass ein Tumor im Hoden in zwei Richtungen streut: in den Bauch und in die Lunge. Dass Hodenkrebs sehr gut behandelbar ist und eine reelle Chance auf Heilung besteht, wenn Kiran mitzieht. „Du bist ein Kämpfer, du wirst wieder gesund“, sagt Professor Volkmer, der folgende These vertritt: Egal wie schwer das Gespräch mit dem Patienten ist, es sollte einmal auch gelacht werden. Also macht er eine Bemerkung über Kirans Geschlechtsorgane, die im Regelfall nur unter Männern lustig ist – und trifft damit genau den richtigen Ton. Alle im Raum lachen, zum ersten Mal seit Tagen. „Dieses Gespräch war für Kiran und meine Frau sehr wichtig. Wir waren alle noch im Schockzustand und er hat uns Mut gemacht“, erinnert sich Steffen Urbschat.

Kiran bekommt am 16. Mai im OP einen permanenten Zugang gelegt und wird von der Kinderonkologie auf die Intensivstation der Kinderklinik verlegt. Die Wege hier sind kurz, beide Stationen und der OP befinden sich im Bereich von drei Stockwerken. Am Nachmittag erhält er die erste von insgesamt sechs Chemotherapien in den kommenden drei Monaten.

Davor findet er aber noch seinen Humor wieder. Im Tagebuch vermerkt Kiran über die MRT-Untersuchung seines Kopfes:

»Endlich gibt es für alle den Beweis, dass ich den Schädel voller Hirn habe.«

Da Kiran die Chemo gut verträgt und sich nicht übergeben muss, kehrt ein wenig Ruhe ein. Sein Vater führt das Tagebuch weiter. Er schreibt spontan seine Gedanken nieder und überarbeitet die Texte später auch nicht mehr. So entsteht ein ungefiltertes Dokument über die ersten Tage im Klinikum Kassel.

»Es bewegt mich sehr, was die Menschen hier alles leisten.

Wie sie uns zur Seite stehen, zuhören, Entscheidungen treffen und gewaltige Verantwortung übernehmen. Vor sechs Tagen kannten wir keinen dieser Menschen: Oberärzte, Ärzte, Stationsschwestern, Pfleger, Reinigungsdienste … Sie arbeiten hart über endlose Stunden für ein Gehalt, das dies nicht widerspiegelt. Was ich hier erlebe, beeindruckt mich wahnsinnig.“

Steffen Urbschat war über Jahre beruflich sehr eingespannt und nur am Wochenende zu Hause. Anfang 2019 entscheidet er sich für eine Auszeit, um sich mehr um die Familie zu kümmern. „Wir haben erstmal Männerurlaub gemacht“,
sagt Urbschat und berichtet über den Tauchurlaub im Frühjahr. Genau 100 Tage nach seiner Kündigung wird Kirans Krebserkrankung festgestellt.

Urbschat ist kein religiöser Mensch. „Aber man könnte durchaus von einer Fügung sprechen“, räumt er ein. Seitdem ist er für seinen Sohn da. Er bereitet ihm Frühstück, macht sein Klinikbett, schneidet Obst auf und fängt den Pizzaboten im Klinikfoyer ab. Er achtet darauf, dass sich Kiran wirklich jedes Mal beim Pflegepersonal, bei den Reinigungsfrauen und den Ärztinnen und Ärzten bedankt, wenn sie im Zimmer waren. Eigentlich muss er das nicht. Kiran macht es sowieso.

Steffen Urbschat weiß, wo Kiran seine Kraft herzieht. Am Ostseestrand in Kühlungsborn trifft sich jedes Jahr eine Clique von Jugendlichen aus der ganzen Republik, die auf dem Campingplatz mit ihren Eltern Urlaub machen. Es bricht Kiran fast das Herz, dass er diesen Sommer nicht dort sein kann. Doch Vater und Sohn haben einen Plan. Zwischen den obligatorischen Bluttests erkennen sie eine Lücke von gut 40 Stunden – Dienstagnachmittag bis Donnerstagmorgen. Also auftanken und ab auf die Autobahn. In Kühlungsborn angekommen, sieht Steffen Urbschat seinen Sohn nur minutenweise. Zwei Stunden vor der Abfahrt um vier Uhr morgens kommt Kiran ins Hotelzimmer. „Papa, ich glaube, ich muss jetzt schnell schlafen“, sagt Kiran. Steffen Urbschat ist nicht sauer. Er ist glücklich, seinen Sohn so zu sehen.

Professorin Michaela Nathrath weiß, dass eine schwere Erkrankung nicht alle Familien enger zusammenrücken lässt. Vor Kiran und seinem Vater habe sie „höchsten Respekt“, die Innigkeit sei bewundernswert. „Steffen Urbschat lässt seinem Sohn viel Autonomie. Kiran übernimmt oft die Gesprächsführung. Er will genau verstehen, was mit seinem Körper passiert. Das ist außergewöhnlich“, sagt Professorin Nathrath. „Er ist ein taffer, charmanter Bursche.“

Dieser Charme und sein Humor tragen Kiran durch den Tag. Ständig scherzt er mit dem Pflegepersonal und spielt denen, die er besonders mag, auch mal einen Streich. Mit 14 Jahren ist er an einem Scheideweg: meistens schon ein Mann, manchmal aber noch ein Junge. Beides hat bei Kiran etwas Spielerisches. Sein Selbstbewusstsein lässt ihn mit dem Unaussprechlichen leben. Denn obwohl die Chemotherapie gut angeschlagen hat, gibt es keine Garantien. Die Therapie ist nicht vorbei und es folgen noch mindestens zwei Operationen.

Sein Vater bringt es im Tagebuch auf den Punkt:

»Kiran rennt einen Marathon, allein. Aber an der Strecke stehen ganz viele Menschen.

Sie motivieren, unterstützen, päppeln auf und treiben voran. Dafür sind wir wahnsinnig dankbar. Danke, Kiran, dass ich so nah dabei sein darf und wir bis jetzt keinen Vater-Sohn-Overkill hatten.“

Im Interview:
Prof. Michaela Nathrath

Klinik für Pädiatrische Hämatologie, Onkologie, Psychosomatik und Systemerkrankungen

  • Behandlung von schwerstkranken Kindern und Jugendlichen mit hochkomplexen und potentiell lebensbedrohlichen Erkrankungen.
  • Spezialisierung auf die Diagnostik und Therapie aller gut- und bösartigen Tumorerkrankungen.
  • Behandlung von Systemerkrankungen (Diabetes, Mukoviszidose, Immundefekte, Asthma, Allergien).
  • Behandlung psychosomatisch erkrankter Kinder.
  • Zertifiziert von der Deutschen Krebsgesellschaft als Kinderonkologisches Zentrum.

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