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15 Monate nach seinem schweren Herzinfarkt steht Dachdeckermeister Ingmar Brede wieder voll im Leben. Als es geschah, war er seit vier Wochen Vater.

Wir mein Mann überleben?

Als Professor Rainer Gradaus im Februar 2018 auf diesen Flur tritt, hält er für einen kurzen Moment inne. Er begegnet Lisa Brede, damals mit ihrem Baby auf dem Arm. Und sie stellt ihm diese Frage, die er noch nicht beantworten kann.

PATIENT, MÄNNLICH, 39 JAHRE, HERZINFARKT, REANIMIERT, AUF DER ANFAHRT IM RETTUNGSWAGEN

Es ist ein Samstagnachmittag im Herzkatheterlabor des Klinikums Kassel und das Kardiologenteam beendet gerade eine Behandlung, als der Anruf aus der Zentralen Notaufnahme kommt. Patient, männlich, 39 Jahre, Herzinfarkt, reanimiert, auf der Anfahrt im Rettungswagen – so lauten die knappen Informationen. Es mag wie ein Klischee aus einer Arztserie klingen, doch es geht jetzt wirklich um jede Minute. Denn jede Minute, in der das Gehirn nicht mit sauerstoffreichem Blut versorgt wird, kann für Ingmar Brede das Ende eines selbstbestimmten Lebens bedeuten.

Das Herzkatheterlabor liegt im Stockwerk direkt über der Notaufnahme. Und weil jeder um die Brisanz der Situation weiß, werden vom Eintreffen des Rettungswagens bis zur Einführung des lebensrettenden Herzkatheters nur zehn Minuten vergehen. „Door to Needle“ („von der Eingangstür bis zur Nadel“) heißt diese Zeitspanne im internationalen Medizinerjargon. Und Professor Rainer Gradaus ist noch heute ein wenig stolz, wie schnell alles ging, und macht seinem Team ein Kompliment: „Es ist optimal gelaufen. Zehn Minuten ist eine super Zeit. Die braucht man sonst fast schon, um die Kleidung zu entfernen.“

Professor Gradaus (50), der seit mehr als zwanzig Jahren Herzkatheter legt und ein „Gefühl für den Draht“ besitzt, führt eben so einen Draht in den Körper ein und arbeitet sich bis zu der Stelle vor, an der das Blut blockiert wird. Die Position des Katheters verfolgt er über große Flachbildschirme, die direkt vor ihm positioniert sind.Es ist für den Laien ein abstrakter und eher unspektakulärer Eingriff, denn niemand agiert hektisch oder ruft lautstark Kommandos durch den Raum. Im Gegenteil: Die Konzentration des Teams absorbiert die Umgebungsgeräusche, alle Augen sind auf die Bildschirme gerichtet.

Der zeitliche Druck, die Blockade in der Blutbahn zu lösen, ist enorm. Diese Minuten entscheiden über die Zukunft von Ingmar Brede.

»Erfahrung ist alles in diesem Beruf, man muss es immer und immer wieder machen«,

wird Professor Gradaus später sagen. Konzentriert und routiniert arbeitet er sich durch die Blutbahn vor und löstdie Blockade, so wie er es schon tausende Male getan hat. Sauerstoffreiches Blut fließt wieder ungehindert durch den Körper.

Ingmar Brede ist gerettet, doch es bleiben Fragen. Wie lange wurde das Gehirn nicht mit Sauerstoff versorgt? Wird er einen Hirnschaden davontragen? Ist vielleicht die Lebensgrundlage einer jungen Familie zerstört? Diese Fragen gehen Professor Gradaus durch den Kopf, als er Lisa Brede auf dem Gang sieht. „Es zog mir kurzzeitig den Boden unter den Füßen weg, als ich das Baby auf dem Arm der jungen Mutter gesehen habe“, sagt Professor Gradaus, denn
er kennt die guten Behandlungsverläufe – und die schlechten. Zu diesem Zeitpunkt kann niemand sagen, wie es ausgehen wird. Man muss abwarten – tagelang, vielleicht länger.

Lisa Brede macht die schlimmste Zeit ihres Lebens durch. Professor Gradaus sagt ihr, dass die nächsten drei Tage sehr hart sein werden. Es wird das einzige Mal sein, dass er sich irrt.

Ingmar Brede wird auf die Intensivstation C 72 verlegt, die bei Lisa Brede Erinnerungen wachruft. „Mein Vater ist auf dieser Station verstorben“, sagt die junge Mutter. „Und zu diesem Zeitpunkt hatte ich das noch gar nicht verarbeitet.“ Jetzt liegt ihr Mann dort. Und niemand kann ihr an diesem3. Februar 2018 sagen, ob er überleben wird.

Lisa Brede beginnt, ein Tagebuch zu führen. Es ist ein seltenes Dokument der Hoffnung, der Verzweiflung und der unendlichen Kraft, die auch die Angehörigen brauchen, um so eine Situation zu überstehen. „Ich hatte nur Angst vor der Gewissheit, dass unser Familienglück vorbei war, bevor es überhaupt angefangen hatte. Vier Wochen durfte ich dich als Papa erleben und ich war so stolz auf dich“, lautet einer ihrer ersten Sätze.

Um sein Gehirn zu entlasten, versetzt das Team der Intensivstation C 72 Ingmar Brede in ein künstliches Koma und senkt seine Körpertemperatur. Als Lisa Brede ihren Mann zum ersten Mal sieht, ist sie erschrocken. „Auch wenn ich wollte, ich konnte nicht hoffen und positiv denken“, schreibt sie. Die Erinnerungen an ihren Vater sind noch zu präsent.

Familie und Freunde helfen ihr mit Bruno, ihrem kleinen Sohn, und begleiten sie ins Klinikum Kassel. Nach drei Tagen auf der Intensivstation soll Ingmar Brede am 6. Februar 2018 aus dem Koma geholt werden, doch eine Lungenentzündung verschlechtert seinen Zustand noch einmal. „Das Warten, die Ungewissheit und dich so zu sehen macht mich fertig“, schreibt Lisa Brede.

Auch zwei Tage später ist sein Zustand unverändert, die Lungenentzündung belastet auch das Herz. „Heute habe ich dir Brunos Gemurmel vorgespielt und deine Augen öffneten sich kurz. Vielleicht bekommt zumindest dein Unterbewusstsein etwas mit“, lautet ein Eintrag vom 8. Februar.

Die Lunge erholt sich etwas, aber Ingmar Brede kann noch nicht aus dem Koma geholt werden. Die Medikamentendosis muss erhöht werden, da er langsam gegen die Schlafmittel resistent wird. Lisa Brede geht durch ein schier endloses emotionales Tal. „Ich bin den ganzen Tag bei dir, warte auf Ärzte, Schwestern, aber keiner kann mir was Neues sagen. Ich kann nicht mehr“, schreibt sie am 11. Februar 2018.

Am Tag darauf wacht Ingmar Brede aus dem Koma auf. Er ist verwirrt, stammelt nur Wörter („Durst“, „Kabel“, „Versteh nicht“) und ist sehr ungehalten. Die Intensivstation bittet Lisa Brede schnell zu kommen, damit er ein vertrautes
Gesicht sieht und sich beruhigt. Ihren Mann so zu sehen war „extrem schockierend“, wie sie schreibt. „Ich sitze die ganze Nacht wach und habe noch mehr Angst vor dem, was auf mich und Bruno zukommt. Wie soll das weitergehen, wenn dein Zustand so bleibt? Du kannst nicht mehr richtig sprechen, dich nicht richtig bewegen? War es das jetzt? Ich liebe dich, ich packe das nicht.“

»Ich wilI meinen Mann wiederhaben, mit seinem Humor, seinem Gemeckere und allem, was dazugehört.«

Die Wende kommt am 13. Februar 2018. Ingmar Brede erkennt seine Frau zum ersten Mal, er spricht in ganzen Sätzen. Er möchte einen Kuss von ihr und fragt nach Bruno. Als Lisa Brede ihren Sohn mit ins Zimmer bringt, beginnt Ingmar Brede zu weinen.

Am 14. Februar 2018 wird er auf eine reguläre Station verlegt. Es ist das schönste Valentinsgeschenk, das Lisa Brede je erhalten hat. Sie hat wieder Kraft zu kämpfen, denn auch die kommenden Wochen werden nicht einfach. „Ich kann endlich wieder hoffen und an uns glauben. Es braucht Zeit, alles wird gut. Bestimmt.“

Heute läuft Ingmar Brede wieder über einen Dachfirst, wie es eben nur Dachdecker können. In über zwanzig Berufsjahren hat er sich noch nie ernsthaft verletzt. Den Herzinfarkt erleidet er bei einem Benefiz-Fußballturnier in Schauenburg, wo auch seine Firma beheimatet ist. Als er auf dem Spielfeld zusammenbricht, reagieren sofort zwei Zuschauer. Ein Sanitäter der Bundeswehr und eineKrankenschwester wechseln sich mit der Herzdruckmassage ab und setzen den Defibrillator an, der draußen am Gebäude hängt. Sie hören nicht auf, bis der Rettungsdienst eintrifft. Es ist eine Laienreanimation wie aus dem Lehrbuch. Sie retten Ingmar Brede zum ersten Mal das Leben.

„Ohne diese Menschen hätten auch wir hier nichts mehr für Ingmar Brede tun können“, sagt Professor Rainer Gradaus.

Alarmsignale bei einem Herzinfarkt

  • Starke Schmerzen mit einer Dauer von mindestens fünf Minuten überwiegend im Brustkorb
  • Massives Engegefühl im Herzbereich
  • Ein stark brennendes Gefühl
  • Übelkeit, Erbrechen, Atemnot und Schmerzen im Oberbauch
  • Angstschweiß mit kalter, fahler Haut

Was ist zu tun, wenn diese Symptome auftreten?

  • Zögern Sie nicht und wählen Sie sofort die 112.
  • Bleiben Sie für Rückfragen am Apparat, bis die Rettungsleitstelle das Gespräch beendet.
  • Nutzen Sie in keinem Fall einen privaten Pkw für die Fahrt in die Klinik.