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News & Presseinformationen

Es lohnt sich immer, dahinter zu blicken

20 Jahre Kinder- und Jugendpsychosomatik in Kassel – Leitung beobachtet Zunahme der Krankheitsschwere

Das Team der Pädiatrischen Psychosomatik am Klinikum Kassel mit dem psychotherapeutischen Leiter Dieter Kunert (links) und der Stationsleitung Claudia Arend (rechts). (Bild: GNH)
Kassel

 Ein 14-jähriges Mädchen kommt mit starken Bauchschmerzen, Verstopfung und Übelkeit in die Kinderklinik des Klinikum Kassel. Die Untersuchungen ergeben keine Anhaltspunkte für die Ursache. Innerhalb weniger Tage geht es der Jugendlichen besser, sie kann entlassen werden. Drei bis vier Wochen später hat sie vier Kilo Gewicht verloren und kommt mit denselben Beschwerden wieder in die Kinderklinik. Trotz weiterer Diagnostik findet man keine körperliche Erklärung. „In einem solchen Fall wird der psychosoziale Dienst der Kinderklinik hinzugezogen“, sagt Dieter Kunert, therapeutischer Leiter der Abteilung Pädiatrische Psychosomatik am Klinikum Kassel.

Die Fachleute erklären der Patientin und ihrer Familie, dass ihre Beschwerden mit psychosozialen Belastungsfaktoren zusammenhängen könnten. Wenn das Mädchen in ihren Alltagsaktivitäten stark eingeschränkt ist – beispielsweise schon längere Zeit die Schule nicht besuchen kann und sich auch von Freunden stark zurückgezogen hat – kann eine stationäre Behandlung in der Kinder- und Jugendpsychosomatik erwogen werden. Durch den Austausch zwischen Klinikärzten, psychosozialem Dienst und der Familie bleibt dem Mädchen unter Umständen eine langwierige Diagnostikodyssee erspart.

Die Abteilung Pädiatrische Psychosomatik ist vor genau zwanzig Jahren, im Frühjahr 2001, im Kinderkrankenhaus Park Schönfeld unter der Leitung von Prof. Tegtmeyer gegründet worden. Sie befindet sich seit 2012 am Klinikum Kassel. Prof. Dr. Michaela Nathrath, Chefärztin der Abteilung, erklärt die Bedeutung des psychosomatischen Angebots für die Kinderklinik: „Als Kinderärztin mit Schwerpunkt für die Versorgung von schwerwiegenden, chronischen Erkrankungen liegt mir das Verständnis für die psychosozialen Aspekte besonders am Herzen. In unserem Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin können wir den Betroffenen eine optimale integrative Versorgung anbieten: Unsere Patienten sind auf der psychosomatischen Station in guten Händen, direkt im Zentrum unterstützt der psychosoziale Dienst die pädiatrischen Fachabteilungen. So lernen auch alle angehenden Kinderärzte bei uns, sowohl körperliche als auch psychische Aspekte in ihre Sichtweise einzubeziehen. Ich bin sehr froh darüber, bei all diesen Aufgaben mit einem starken und kompetenten Team unter der Leitung von Dieter Kunert zusammen zu arbeiten.“

 „Rund 1200 Kinder haben wir in dieser Zeit etwa behandelt“, sagt Dieter Kunert, der die Abteilung seit 20 Jahren leitet. Häufige Krankheitsbilder sind Essstörungen, wiederkehrende Schmerzzustände, Ausscheidungsstörungen, posttraumatische Belastungsstörungen oder psychische Störungen als Begleiterscheinungen einer Erkrankung wie Diabetes oder Asthma. Die enge Anbindung der pädiatrischen Psychosomatik an die Kinderklinik bietet den Patienten eine hohe Sicherheit, selbst bei schwerwiegenden körperlichen Symptomen, während sie gleichzeitig durchgehend therapeutisch betreut werden können.

Die Kinder- und Jugendpsychosomatik befindet sich in einem kleinen Bau mit Blick Richtung Park und Universität. Das schlichte Gebäude wird für 16 junge Patienten von 12 bis 18 Jahren für bis zu sechs Monate ihr Zuhause. Ein geregelter Tagesablauf mit Schule, gemeinsamen Mahlzeiten und gemeinschaftlichen Pflichten gehört zur Therapie. „Der Stationsalltag wird in seiner therapeutischen Wirksamkeit oft unterschätzt und ist eine tragende Säule der Behandlung“, so Kunert. „Weitere Behandlungselemente sind Einzel-, Gruppen- und Familientherapie, Körper- und Kunsttherapie oder Übungen zum Umgang mit Ängsten oder anderen individuellen Themen sowie die Schule für Kranke.“

Während des Klinikaufenthalts werden die Patienten Teil einer Gemeinschaft: „Unabhängig vom jeweiligen Krankheitsbild ist das Nicht-mehr-bewältigen-Können von Alltag das, was die Patienten in die stationäre Behandlung bringt. Sie treffen sich nicht mit Freunden und können nicht aus sich rausgehen. Wenn sie all das schlucken, meldet sich bei unseren Patienten irgendwann der Körper“, erklärt der psychotherapeutische Leiter.

In diesem Zusammenhang sieht Dieter Kunert angesichts des coronabedingten Lockdowns eine große Aufgabe auf die Kinder- und Jugendpsychosomatik zukommen: „Die Ängstlichen werden in ihrem Rückzug zurzeit noch entlastet. Die Aufmerksamkeit für diese Kinder und Jugendlichen fehlt, weil sie eben zu Hause sitzen. Aber ich bin davon überzeugt, dass die deutlich höhere psychische Belastung bei ihnen in ein paar Monaten zutage treten wird“, sagt er.

Alternative Beziehungserfahrungen

Claudia Arend leitet den Pflege- und Erziehungsdienst der Abteilung und ist auch seit den ersten Tagen dabei. Die Kinderkrankenschwester und Fachkraft für Pflege und Erziehung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie sagt, dass die Jugendlichen im stationären Alltag alternative Beziehungserfahrungen machen – sowohl mit den Mitpatienten als auch mit den Erwachsenen: „Manchmal muss man viel aushalten, die Patienten wollen gehalten werden – das muss man wissen“, sagt sie. Dabei helfe ihr der gute Zusammenhalt im Team und auch die positiven Entwicklungen bei den Patienten: „Egal, wie groß der Widerstand ist und wie sinnlos etwas zu sein scheint, es lohnt sich, das durchzuhalten. Es lohnt sich immer, dahinter zu blicken und zu verstehen.“

Damit der Klinikalltag nicht zur Blase wird, in der die Patienten gute Fortschritte machen, und zu Hause wieder in alte Muster zurückfallen, ist die Arbeit mit der Familie ein wichtiger Bestandteil der Behandlung. „Wir sind hier keine Werkstatt, in der wir die Kinder reparieren und dann funktioniert alles. Im günstigsten Fall arbeiten die Eltern, und zum Teil auch Großeltern und Geschwister mit, versuchen sich an eigenen Verhaltensänderungen und ändern ihre Haltung“, sagt Dieter Kunert.

Der Übergang von der Klinik in den Alltag ist ein wichtiger Meilenstein. Er wird durch Wochenendbeurlaubung und Probetage in der eigenen Schule gut vorbereitet. Auch das Mädchen mit den Bauchschmerzen und dem Gewichtsverlust ist nach mehrmonatigem Klinik-aufenthalt in dieser Phase angekommen. Sie fühlt sich in ihrem Selbstwert gestärkt, kann positiver über sich sprechen, hat Freundschaften geschlossen und ist weniger auf ihre körperlichen Empfindungen fixiert. Die Bauchschmerzen sind weg, ihr Appetit ist zurückgekehrt. Mit Zuversicht blickt sie jetzt dem Schulbesuch in ihrer Heimatschule entgegen.