Stiller Kämpfer
Der 24. Juni 2014 ist ein Dienstag und Dennis gerade zehn Jahre alt. Als er auf der Intensivstation das Bewusstsein wiedererlangt, teilt er seinen Eltern sofort zwei Dinge mit: „Der Lkw-Fahrer hat das nicht mit Absicht gemacht. Und ich werde lernen, mit links zu schreiben.“
Dennis weiß zu diesem Zeitpunkt nicht, ob er jemals wieder einen rechten Arm haben wird. In den Stunden zuvor haben mehrere Teams im Klinikum Kassel alles aufgeboten, dass es wieder so sein wird, doch er kann seinen Arm nicht spüren. Dick verpackt unter Verbänden liegt er wie ein Anhängsel neben ihm. Dennis nimmt die Situation, wie sie ist. Er klagt nicht, im Gegenteil: Er macht sich an diesem Dienstag zurück auf den Weg ins Leben.
Der 24. Juni 2014 ist ein Dienstag und Dennis gerade zehn Jahre alt. Als er auf der Intensivstation das Bewusstsein wiedererlangt, teilt er seinen Eltern sofort zwei Dinge mit: „Der Lkw-Fahrer hat das nicht mit Absicht gemacht. Und ich werde lernen, mit links zu schreiben.“Dennis weiß zu diesem Zeitpunkt nicht, ob er jemals wieder einen rechten Arm haben wird. In den Stunden zuvor haben mehrere Teams im Klinikum Kassel alles aufgeboten, dass es wieder so sein wird, doch er kann seinen Arm nicht spüren. Dick verpackt unter Verbänden liegt er wie ein Anhängsel neben ihm. Dennis nimmt die Situation, wie sie ist. Er klagt nicht, im Gegenteil: Er macht sich an diesem Dienstag zurück auf den Weg ins Leben.
Bundesstraße B 7 nahe Warburg, einen Tag zuvor: Kurz vor acht Uhr morgens kollidiert ein Lkw seitlich mit einem Schulbus, in dem Dennis sitzt. Nach dem Aufprall, der für die meisten Schüler glimpflich ausgeht, steigt er bei vollem Bewusstsein aus dem Wrack und blickt in erschrockene Gesichter. Dort, wo rechts sein T-Shirt aufhört, ist nichts mehr. Danach setzt seine Erinnerung weitgehend aus. Sein Vater, der an die Unfallstelle geeilt ist, hört die Notärztin sagen, dass das mit dem Arm wohl nichts mehr werden wird. Doch ein Rettungsassistent des Roten Kreuzes macht sich auf die Suche, findet den abgetrennten Arm im Schulbus und verpackt ihn exakt so, wie es im Lehrbuch steht. Wäre es anders gelaufen, würde Dennis heute eine Prothese tragen.
Kurz darauf wählt ein Disponent der Rettungsleitstelle die Nummer der Notaufnahme am Klinikum Kassel. Ein ungewöhnlicher Vorgang, denn ankommende Notfälle werden auf einem Monitor für alle ersichtlich angezeigt. Doch ein zehnjähriges Kind mit abgetrenntem Arm ist nicht gewöhnlich. Der Disponent weiß, die nächste Stunde, im Fachjargon „Golden Hour“ (goldene Stunde) genannt, hat entscheidende Bedeutung. Danach steigen die Risiken für Komplikationen rapide.
Etwa zu dieser Zeit hebt der Rettungshubschrauber „Christoph 7“ mit Dennis an Bord von der Unfallstelle ab. Der Flug ins Klinikum Kassel wird nur wenige Minuten dauern. Der Anruf der Leitstelle legt bei Dr. Christian Gernoth einen Schalter um.
Weltweit sind nur wenige Doppelamputationen bekannt, die erfolgreich operiert wurden.
„In so einem Moment muss man die Emotionen ausblenden und Dinge abarbeiten“, sagt der 42-jährige Kinderanästhesist, der das Team im Schockraum leiten wird. Gernoth, der schnell, aber nicht hektisch spricht, macht in den folgenden fünf Minuten gut fünfzehn Anrufe. Gibt es einen freien OP-Saal? Welche medizinischen Fachrichtungen sollen bei der Ankunft in der Notaufnahme sein? Gernoth informiert den CT-Raum, die Klinik für plastische Chirurgie und die Kinderintensivstation. Gut zwei Dutzend Menschen im ganzen Klinikum bereiten sich auf die Ankunft von Dennis vor.
Kurz vor der Landung des Hubschraubers spricht Gernoth mit dem Schockraum-Team. „Bei einem schwerverletzten Kind geht automatisch der Adrenalinspiegel hoch, alle denken sofort an ihre eigenen Kinder“, sagt Gernoth. „Und alle wollen helfen. Meine Aufgabe ist es, das Team zu ordnen und den Überblick zu behalten.“ Der Kinderanästhesist arbeitet nicht zufällig am Klinikum Kassel. „Wir haben hier eine Klinik für Kinderintensivmedizin und eine Klinik für Kinderanästhesie. So eine Konstellation gibt es nicht häufig“, sagt der Oberarzt und berichtet von über 4.000 Kinderanästhesien pro Jahr. Genau an so einem Ort wollte Gernoth arbeiten:
»Wo andere an Grenzen stoßen, haben wir Routine.»
Als das Hubschrauberteam mit Dennis den Schockraum erreicht, ist es zwei Sekunden still. „Das ist bei jedem Patienten so“, sagt Dr. Gernoth und lächelt. Wie ein Ritual, bevor der Notarzt die Übergabe beginnt. Mit im Raum ist Professor Dr. Goetz Giessler, Direktor der Klinik für plastische Chirurgie. Er kommt direkt aus dem OP und signalisiert nach einem Blick auf den abgetrennten Arm, dass er eine Replantation für möglich hält. Und Giessler (44) verliert weder Zeit noch Worte. Er packt den Arm ein und macht sich auf den Weg zurück in den OP.
Das Schockraum-Team bereitet Dennis auf die lange Operation vor. „Wir mussten sicher sein, dass er keine weiteren schweren Verletzungen hat. Der abgetrennte Arm war offensichtlich, aber wir haben Dennis komplett geröntgt“, sagt Gernoth. Das Team arbeitet Fragen ab: Gibt es innere Blutungen? Ist sein Kreislauf stabil? Eine Platzwunde an seiner Stirn ist nicht lebensbedrohlich und wird schnell versorgt. 45 Minuten nach Eintreffen des Hubschraubers wird Dennis in den OP gebracht, wo schon sein Arm liegt. Das Schockraum-Team hat die „Golden Hour“ eingehalten.
Die folgende Operation wird mehr als zehn Stunden dauern. Giessler und sein Team nähen nicht nur alle Nervenenden des Arms wieder an den Körper an. Auch die rechte Hand wurde bei dem Unfall nahezu vom Arm getrennt und hängt nur noch an einer Sehne. Dennis hat eine Doppelamputation erlitten. „Die Replantation des Arms war keine Kunst, eher eine Fleißarbeit“, sagt Giessler und räumt dann doch ein, dass man sich bei der Hand „schon ein bisschen was trauen“ musste. Weltweit sind nur wenige Doppelamputationen bekannt, die erfolgreich operiert wurden. Mit Lob ist das so eine Sache in der Medizin. Es wird unter Ärzten nur selten verteilt. Dr. Thomas Fischer, Ärztlicher Direktor des Klinikums und selbst Kinderanästhesist, ist da keine Ausnahme. In kleiner Runde sagt er nur einen knappen Satz über den Kollegen Giessler:
»Er hat den Arm wieder hinbekommen.«
Fischer nickt dabei vielsagend und lächelt. Mehr Anerkennung ist kaum möglich.
Die Operation ist für Dennis und seine Familie nur ein erster Wegpunkt „Jetzt sind sie dran“, hatte Prof. Giessler nach der OP zu den Eltern gesagt. „Die Bedeutung der Rehabilitation nach einer schweren Verletzung wird von den Angehörigen oft nicht ernst genommen“, sagt Dr. Fischer. Doch in diesem Fall ist sofort das Gegenteil spürbar. „Ein Elternteil war immer auf der Station“, berichtet Dr. Gernoth, der Dennis auf der Kinderintensivstation weiter betreut. Der Zusammenhalt war beeindruckend.“
Dabei macht Dennis dem Team zuerst Sorgen. „Er war sehr still, er hat kaum gesprochen“, sagt Dr. Fischer. Es dauert eine Weile, bis klar wird, dass ein außergewöhnlich starker Wille in dem Zehnjährigen arbeitet, der jedoch nicht viele Worte darum macht. Gernoth: „Dennis macht viel mit sich selbst aus, was auch problematisch sein kann. Die nervliche Belastung ist in so einer Situation enorm. Aber die Familie hat viel aufgefangen“, sagt Gernoth. „Und wenn die Eltern mal ein Tal durchschritten haben, hat Dennis sie wieder rausgeholt. Er hat sich da wirklich durchgebissen. Viele Erwachsene wären an so einer Verletzung gescheitert.“ Dennis dagegen hinterlässt einen bleibenden Eindruck im Klinikum. Kinderkrankenschwester Elfriede, laut Dr. Fischer eine „Institution der Kinderklinik“, erinnert sich an klaglos hingenommene Verbandswechsel. „Er hat tapfer zugesehen, nicht geweint und sich nie beschwert“, sagt Schwester Elfriede, die viel Unterstützung von seiner Mutter Vera erhielt.
Als sie Dennis nach Jahren zum ersten Mal wieder im Klinikum trifft, nimmt Schwester Elfriede ihn kräftig in den Arm. „Was bist du groß geworden“, sagt sie und hält wie automatisch seinen rechten Arm fest. Ein kurzer Blick auf die verbliebenen Narben, ein Drücken an den einst kritischen Stellen – Schwester Elfriede ist zufrieden mit ihrem Schützling. In den Wochen nach dem Unfall war nicht nur zwischen den beiden großes Vertrauen entstanden. „Schwester Elfriede war sehr wichtig für die ganze Familie“, sagt Mutter Vera.
»Ohne sie wäre es nicht so gut gelaufen.«
Nach langen ersten Tagen spürt Dennis ein Kribbeln im Arm und reagiert auf Schmerz. Für die Mediziner ist es ein ersehntes Zeichen. Der Arm wird durchblutet und wieder vom Körper angenommen. Noch heute, fast vier Jahre nach der Operation, zeigt Professor Giessler mit einem Lachen auf den einwandfrei arbeitenden Bizeps des rechten Oberarms. Würde dieser nicht funktionieren, hinge der Arm ohne Spannung am Körper herunter. Dann hätte eine weitere OP zur Muskeltransplantation für den Oberarm durchgeführt werden müssen.
Nur acht Wochen nach dem Unfall tritt Dennis das nächste reguläre Schuljahr an.
Er möchte keinerlei Sonderbehandlung. Wie angekündigt, hat er mit links schreiben gelernt. Weil das noch nicht so flüssig geht, bekommt er zehn Minuten mehr Zeit bei Klassenarbeiten.
Ansonsten ist er ein Schüler wie jeder andere. Doch sein Leben wird nicht mehr dasselbe sein. Der rechte Arm ist etwas kürzer als der linke, die Finger konnten nur teilweise gerettet werden, der Daumen fehlt nahezu komplett. Viermal die Woche verbringt er den Nachmittag bei der Physiotherapie, dazu gibt es zwei Termine beim Ergotherapeuten. Aktuell kann Dennis eine schmale Energydrink-Dose halten, bald soll es mit einer normalen Dose klappen. Die Erfolgserlebnisse finden auf einer anderen Skala statt.
Dennis, heute vierzehn Jahre alt, wirkt reifer und ernsthafter als Gleichaltrige. Er sei an „Coolness kaum zu überbieten“, sagt Professor Giessler. Und tatsächlich glaubt man, einem deutlich älteren Teenager gegenüberzustehen. „Mein Sohn ist über Nacht erwachsen geworden“, sagt sein Vater nicht ohne Stolz. Dennis wird seinen Weg gehen, so wie er ihn die letzten Jahre gegangen ist. Ohne viele Worte und ohne zu klagen.
Dennis ist ein stiller Kämpfer.