Kann der Arbeitsplatz ein Leben retten?
Vielleicht wäre sie heute schon nicht mehr unter uns. „War alles möglich“, sagt die 23-Jährige, presst die Lippen aufeinander und nickt. Ihre Geschichte handelt von unerklärlichen Schulnoten, Schatten im Kopf und einem Vorgesetzten, der seinem Bauchgefühl folgte und ihr Leben rettete.
„Als sie im Sommer 2015 zum Gespräch erschien, saß uns ein sehr junges Mädchen gegenüber“, sagt Volker Pape und lacht über den Tisch zu Laura Santos hinüber. Pape, Ausbildungsleiter der Gesundheit Nordhessen und zuständig für rund 400 Auszubildende, darf sich so eine Bemerkung erlauben. Er ist ein erfahrener Ausbilder im Erstberuf Krankenpfleger. Routiniert taxiert er seine Gesprächspartner, ohne aufdringlich zu wirken. Und er mag es, wenn Vorurteile nicht bestätigt werden.
„Frau Santos hatte sich als Kauffrau für Büromanagement beworben. Sie wirkte noch sehr jung, dabei aber sehr strukturiert und gut vorbereitet“, erinnert sich Pape. „Das Gespräch war beeindruckend.“
Nur die Schulnoten im Abschlusszeugnis, die gegenüber den Vornoten abgefallen waren, passten nicht ins Bild. „Insgesamt fiel unsere Entscheidung für Frau Santos aufgrund ihrer sehr ausgeprägten Sozialkompetenz und der perfekten Vorbereitung, wenngleich auch ein wenig Bauchgefühl immer dabei ist“, sagt Volker Pape.
Vor dem Ausbildungsvertrag stand noch eine Untersuchung beim Betriebsarzt an. Reine Routine, doch Laura Santos bestand den Sehtest nicht. „Ich konnte mir das nicht erklären, da ich kurz zuvor erst beim Augenarzt war“, erzählt Santos. Dort machte sie einen zweiten Termin, denn ohne bestandenen Sehtest kein Ausbildungsvertrag. „Die Zeit drängte und ich war auch ein bisschen genervt“, räumt Santos ein. Ihr Augenarzt wurde stutzig, untersuchte sie nochmals und machte einen Termin für eine MRT-Untersuchung. Darauf wartet man in der Regel ein paar Wochen. Santos sollte sofort losfahren.
„Ich verstand die Aufregung nicht, mir ging es doch gut“, erinnert sie sich. Doch nach dem MRT-Scan fragte man Santos, ob sie denn wisse, wo sie sich gerade befinde. Hinter den Augen hatten die Ärzte einen Schatten ausgemacht,
einen Tumor, der im Hirnwasser schwamm. Nur schwer zu erkennen und erst im MRT zweifelsfrei sichtbar. Ein Rettungswagen wurde alarmiert, der Laura Santos gegen 22 Uhr in die Zentrale Notaufnahme des Klinikums Kassel transportierte.
Innerhalb weniger Stunden wurde ihr Leben auf links gedreht.
Fragen schossen durch ihren Kopf, in dem ein Tumor lauerte.
„Werde ich überleben? Ist eine Operation überhaupt möglich? Bin ich bald ein Pflegefall? Sterbe ich?“ Nach der MRT-Untersuchung brach kurzzeitig eine Welt zusammen, doch der Anblick ihrer schockierten Eltern brachte auch eine Entscheidung. „Für sie musste ich stark sein, sonst wäre die Situation gekippt“, erinnert sich Santos. Also stählte sie sich von innen und wischte die Tränen weg, bevor sie mit ihrer Mutter in den Rettungswagen stieg.
Im Klinikum kommt sie nach ersten Untersuchungen auf die Station D 81, die Stroke Unit, eine spezialisierte Station für Schlaganfallpatienten, die eine lückenlose Überwachung garantiert. Laura Santos, mehrfach verkabelt, wird ab jetzt nicht mehr aus den Augen gelassen. Als sie sich nachts im Schlaf dreht, steht plötzlich eine Person neben dem Bett. Ein Kontakt hatte sich gelockert und Alarm ausgelöst. Ab jetzt wird nichts mehr dem Zufall überlassen.
Die folgenden vier Tage ist sie von „weißen Kitteln“ umgeben, erzählt Santos. Jeden Tag stehen Untersuchungen an, dazwischen sieht sie ihre Eltern und die beste Freundin auf der Station. Dort hat zu dieser Zeit auch Gesundheits-und Krankenpflegerin Liliana Bauer Dienst, „Schwester Lilli“, wie Santos sie nennt. Zwischen beiden Frauen entwickelt sich innerhalb weniger Tage eine außergewöhnliche Beziehung. „Schwester Lilli hat mir das Gefühl gegeben, nicht in einem Krankenhaus zu liegen“, sagt Santos. „Ich fühlte mich nie allein.“ Über die Jahre verlieren sie sich ein wenig aus den Augen, das Klinikum Kassel ist groß. Doch ihr Wiedersehen ist tränenreich, zusammen brauchen sie eine Packung Taschentücher auf.
»Lilli hat mir das Gefühl gegeben, nicht in einem Krankenhaus zu liegen.«
Liliana Bauer sah etwas in ihrer Patientin, das sie nicht erklären kann. Sie erkundigte sich auch nach der Operation, wie es Santos auf der Intensivstation C 62 ging. War es das gleiche Alter, in dem ihre eigenen Töchter waren? Warum gerade Laura Santos? „Ich weiß nicht, manchmal geht es nicht anders“, sagt Bauer in ihrem wunderbaren Akzent, der aus dem fernen Kasachstan stammt. „Wir haben öfters junge Menschen hier auf Station, aber Laura war anders. Kann man nicht erklären.“ Bauchgefühl.
Dr. Firas Al Youzbashi (42), leitender Oberarzt der Klinik für Neurochirurgie, plante den Eingriff bei Santos über mehrere Tage hinweg. Der Tumor, 2,5 mal 3,5 Zentimeter groß, schwamm im Hirnwasser des linken Ventrikels, einer von vier mit Flüssigkeit gefüllten Kammern im Gehirn.
DER 4. AUGUST 2015, DER TAG DER OPERATION, IST IHR ZWEITER GEBURTSTAG.
„Der Tumor hatte eine tiefe, zentrale Lage. Auf dem Weg dorthin kann man viel Schaden anrichten“, sagt Dr. Al Youzbashi. „Zehn, zwölf Medizineraugen schauen immer auf den Patienten, bevor wir eine Entscheidung treffen.
»Ein Team sieht immer mehr als eine Person«,
sagt Dr. Al Youzbashi, der die emotionale Komponente der Operation nicht verleugnet: „Wir kannten natürlich die Geschichte von Laura Santos.“ Junge Frau, Zufallsbefund, das Leben noch vor sich. „Nur bei Kindern geht einem noch mehr durch den Kopf“, sagt Dr. Al Youzbashi.
Die Operation dauerte volle zehn Stunden. Allein die korrekte Lagerung von Santos auf dem OP-Tisch – bei einem Eingriff mit Mikroskop von besonderer Bedeutung – benötigte gut eine Stunde. „Die Vorbereitungen sind enorm. Der Weg zum Tumor und die Entfernung waren dann in knapp drei Stunden erledigt“, sagt Dr. Al Youzbashi, der die Operation zu den drei anspruchsvollsten des Jahres 2015 zählt.
An die Tage danach auf der Intensivstation C 62 kann sich Santos nicht erinnern. Aber an die Sache mit ihren Haaren und dass sie gut gelöst wurde: „Meine größte Sorge war, dass man mich kahl rasiert“, sagt Santos und lacht dabei. Damals gingen ihre Haare bis zu den Hüften. Das OP-Team ging behutsam vor und ließ ausreichend übrig, um den Einschnitt zu überdecken. Ihre Narbe, die quer über den Kopf verläuft, ist heute nicht zu erahnen.
Laura Santos hatte nach der erfolgreichen Operation das Bedürfnis, danke zu sagen. Doch wie macht man das? Einen Termin bei der Sekretärin anfragen? Irgendwann sah sie Dr. Al Youzbashi bei einer Fortbildung am Kaffeeautomaten stehen. „Ich wusste erst nicht, wer diese junge Frau ist. Sie hatte sich verändert“, erinnert sich der Neurochirurg an das Gespräch. Reifer, ernsthafter, mit kürzerer Haaren. „Sie brauchen sich nicht zu bedanken“, versicherte ihr Dr. Al Youzbashi. Soll heißen: Wir haben einfach unsere Arbeit gemacht. Doch für Laura Santos hat es die Welt bedeutet.
Der 4. August 2015, der Tag der Operation, ist ihr zweiter Geburtstag. „Es gibt jedes Jahr Kuchen“, sagt Santos und berührt mit der linken Hand ihre gravierte Halskette. Sie meint es ernst: Dort eingraviert sind der Tag ihrer Geburt und eben der 4. August. Sie ist seitdem ein anderer Mensch geworden:
»Die Prioritäten verschieben sich, die kleinen Dinge werden wertvoll.«
Einfach mit der besten Freundin auf der Couch sitzen. Wenn Santos darüber spricht, schießen ihr Tränen in die Augen. Den Tod überlistet zu haben, wühlt sie auch Jahre später noch auf. Nur sechs Wochen nach der OP beginnt sie ihre Ausbildung bei der GNH.
Doch sie hatte Hilfe. Dr. Al Youzbashi und sein Team, Liliana Bauer und ihre Kollegen und Kolleginnen – und viele weitere, die hier ungenannt bleiben. Ganz am Anfang standen Volker Pape und das Auswahlgremium der GNH. Wäre die Entscheidung durch einen Konzentrations- und Leistungstest gefallen, wäre sie vielleicht durch das Raster gefallen und der Tumor nie entdeckt worden – und Laura Santos irgendwann kollabiert. Zum Glück kam es anders.