Zurück zur Normalität
Kinder und Jugendliche, die extrem erschöpft und unkonzentriert sind, Kopfschmerzen, Herzprobleme und Atemnot haben. Einige trifft es so schwer, dass sie nicht mehr zur Schule gehen können. Was zuvor schon als postinfektiöses chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS) bekannt war, betrifft nach der Corona-Pandemie in ähnlicher Form als Post Covid deutlich mehr Heranwachsende. Experten schätzen die Anzahl der Betroffenen unter 18 Jahren allein in Hessen auf bis zu 55.000.
Post Covid-Sprechstunde bereits seit 2021
Die Klinik für Pädiatrische Hämato-Onkologie, Psychosomatik und Systemerkrankungen im Kinderzentrum des Klinikum Kassel hat schon früh ihre Aufgabe darin gesehen, einerseits diese Kinder und Jugendlichen zu unterstützen und andererseits zur Erforschung dieser seltenen und oftmals schwer verlaufenden Erkrankung beizutragen. „Seit Ende Dezember 2021 bieten wir für Kinder und Jugendliche eine Post Covid und ME/CFS Sprechstunde an. Wir sind die einzige Anlaufstelle für Kinder und Jugendliche in ganz Hessen“, sagt Prof. Dr. Michaela Nathrath, Chefärztin der Klinik.
Dieses Angebot einer kompetenten Beratung und interdisziplinären Diagnostik erfolgt bisher „on-top“ zu den kinderonkologischen Patient*innen und die Diagnostik ist aufwändig. Post Covid ist eine Ausschlussdiagnose, was bedeutet, dass vorher alle anderen möglichen organischen oder psychischen Ursachen der Symptome ausgeschlossen werden müssen, da es bis jetzt keinen spezifischen Biomarker gibt. Hierzu bedarf es geschulter Ärzte und Psychologen, die mittels ausführlicher Anamnese mit speziellen Fragebögen, Laboranalysen und Funktionstest die Diagnose eines Post Covid Syndroms oder ME/CFS stellen.
Lange Warteliste für Diagnostiktermine
Deshalb kann die Klinik pro Woche maximal ein bis zwei Termine für Kinder und Jugendliche mit dem Verdacht auf Post Covid oder ME/CFS vergeben. „Auch ohne Werbung für dieses Angebot beträgt die Wartezeit für eine stationäre Diagnostik mittlerweile zehn Monate. Bis Ende Dezember 2023 sind wir ausgebucht und für 2024 gibt es aktuell schon eine lange Warteliste“, sagt die Leiterin der Anlaufstelle Dr. Nina Kollmar.
Klinikum beteiligt sich an Erforschung der Krankheit
Um auch die Erforschung der komplexen Erkrankung voranzubringen, beteiligt sich das Klinikum an einem von der Kinderklinik der Technischen Universität München initiierten Long COVID Register (MLC-R). Für diese standardisierte ausführliche Diagnostik der Patienten arbeiten geschulte Mediziner*innen und Psycholog*innen Hand in Hand, da vor Diagnosestellung andere somatische und psychische Erkrankungen ausgeschlossen werden müssen. Im Nachgang der erfolgten Diagnostik müssen die Auswertung der Fragebögen, die Eingabe der erhobenen Daten in eine Datenbank sowie gemeinsame Fallkonferenzen von Kinderärzt*innen und Kinderpsycholog*innen erfolgen.
Viele Betroffene - Team wirbt um Unterstützung
Da Corona sich von einer Pandemie zu einer Endemie hin entwickelt hat, wird die Erkrankung nicht verschwinden. Mit Blick auf die geschätzten 55.000 bereits erkrankten Kinder und Jugendlichen in Hessen und weitere zu erwartende Neuerkrankungen, möchte das Team um Prof. Nathrath die Versorgung von Post Covid bzw. ME/CFS-Patient*innen auf eine langfristig solide personelle Basis stellen und wirbt daher um Unterstützung der Landesregierung. „Es ist wichtig, den betroffenen Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit zu bieten, sich an ein Kompetenzzentrum zu wenden, um dort frühzeitig Diagnostik, symptomatische Therapie und Beratung zu erhalten“, so Prof. Nathrath.
Spendenaufruf
Das Team im Klinikum Kassel würde den betroffenen Kindern und Jugendlichen Termine gerne schneller anbieten und sinnvolle, zusätzliche Leistungen aufnehmen, die nicht von den Krankenkassen finanziert werden können. Daher unterstützt der Verein „Hilfe für Kinder und Erwachsene im Krankenhaus e.V.“ das Post-Covid-Angebot im Kinderzentrum des Klinikum Kassel jetzt aus Spendengeldern. Das Projektteam freut sich über Spenden unter dem Stichwort „Post Covid Kinder“ an: Hilfe für Kinder und Erwachsene im Krankenhaus e.V., Spendenkonto: IBAN: DE14 5205 0353 0002 1421 28 bei der Kasseler Sparkasse. Tipp: Bei Angabe der Adresse auf der Überweisung schickt der Verein eine Spendenquittung zurück.
Felix (10) berichtet über seinen Krankheitsverlauf
Es war im Spanienurlaub letztes Jahr als Felix (10 Jahre) zum zweiten Mal Corona bekam. Vorher war er zweifach geimpft und hatte bereits einmal eine Corona-Erkrankung durchgemacht. Die zweite Infektion war schlimmer als die erste. Felix litt stark an Übelkeit, war sehr entkräftet.
Bald gingen die Ferien zu Ende, Felix besuchte die vierte Klasse der Grundschule in seinem Viertel. Doch in der zweiten Schulwoche ging nichts mehr. Felix kam nach Hause, ließ die Rollläden herunter und konnte nicht mehr aufstehen. „Er war total müde und schlapp. Wir dachten, er ist wieder krank“, sagt seine Mutter Nina Bauer. Sein Vater ging mit ihm zum Kinderarzt, doch die Untersuchung und die Blutanalyse ergaben nichts Auffälliges. Gleichzeitig besserte sich die extreme Schwäche nicht. So gingen sie nach vier Wochen wieder zum Kinderarzt, der Felix zur weiteren Abklärung ins Klinikum Kassel einwies.
„Wir kamen gleich auf die F71, wo wir uns sehr gut aufgehoben gefühlt haben“, berichtet Nina Bauer. „Felix hat viele Untersuchungen mitmachen müssen. Aber das war notwendig, um die Post Covid-Diagnose zu bestätigen.“ „Nur das Ergometer ging nicht“, ergänzt der Junge. Das habe er nicht geschafft.
Nach einer Woche auf der Station ging Felix mit der Diagnose Post Covid nach Hause. Die Kriterien für die Diagnose ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom) erfüllte er nur aufgrund der Dauer der Symptome nicht. Dies bestätigte sich aber im weiteren Verlauf. Das bedeutet, er hat in Folge der Covid-Erkrankung eine schwere neuroimmunologische Erkrankung entwickelt, die für die starken Beschwerden bei ihm verantwortlich ist. „Dr. Kollmar sagte uns, Kinder und Jugendliche haben eine bessere Prognose als Erwachsene. Aber es könne Wochen oder Monate dauern, bis sich eine Besserung zeigt“, erinnert sich die Mutter. Die Klinik unterstützte dabei, einen Heimunterricht zu organisieren. „Wir wurden auch gut beraten hinsichtlich des Pflegegrades und der Schwerbehinderung“, sagt Nina Bauer. Die Familie entschied sich aber gegen weitere Angebote wie Physiotherapie, da Felix dafür zu schwach war.
In den folgenden Monaten muss Felix auch im Haus den Rollstuhl nutzen. Längere Aus-flüge sind nicht möglich, zur Schule kann er nicht gehen. Auch Besuche von Freunden strengen ihn anfangs zu sehr an.
Zunächst erhält Felix wenig medikamentöse Therapie. Vor allem Nahrungsergänzungsmittel, die Entzündungen entgegenwirken sollen, später auch ASS 100. Es gibt keine Medikamente, die gesichert gegen Post Covid wirken.
Bis ins neue Jahr bessert sich Felix‘ Zustand nur langsam. Er kann wenige Schritte laufen, muss sich nach Untersuchungen im Klinikum Kassel lange ausruhen. Seine Mutter ist selbst Ärztin und recherchiert viel im Internet. Dabei stößt sie auf ein Medikament, das nach einer amerikanischen Studie Erwachsenen mit Post Covid und ME/CFS zu 75 Prozent helfen soll. Es handelt sich um ein Medikament, das in Deutschland für erwachsene Patienten mit Schizophrenie oder Manie zugelassen ist. Bei Post Covid/ME/CFS wird es in einer minimalen Dosis gegeben. Dennoch ist der Einsatz bei Kindern ein sogenannter doppelter Off-Label-Use, da das Medikament weder für diese Erkrankung noch für diese Altersgruppe zugelassen ist.
Familie Bauer entscheidet sich nach Rücksprache mit dem Team im Klinikum trotzdem dafür, Felix das Medikament zu geben. Zum Glück halten sich bei ihm die Nebenwirkungen in Grenzen: hin und wieder Bauchschmerzen und etwas schlechterer Schlaf. Gleichzeitig schlägt der Wirkstoff Aripiprazol gut an: Die Schwäche und Müdigkeit wird weniger. Er kann wieder in Begleitung seiner Familie ein ganzes Stück spazieren gehen, längere Konzentration und Ausflüge fallen ihm leichter.
Sein bester Freund kommt jetzt wieder regelmäßig zu Besuch und sie können sogar wieder Fußball spielen. „Ich bin gerne draußen. Früher habe ich zwei Stunden am Stück Fußball gespielt“, berichtet Felix.
Inzwischen sieht es so aus, als sei für Felix ein normaler Alltag wieder im Bereich des Möglichen. Dank des Heimunterrichts, der sehr gut auf ihn zugeschnitten war, hat er etwa den gleichen Lernstand wie seine Klassenkameraden. Außerdem hat er die Zusage, gemeinsam mit seinem besten Freund im September auf ein Kasseler Gymnasium zu gehen. Die Familie hofft, dass dies nach einer Eingliederungszeit auch normal möglich sein wird.
Nach knapp einem Jahr mit einem Post-Covid-kranken Kind wünscht sich Familie Bauer mehr Aufmerksamkeit für das Thema: „Wir hatten viel Glück, hier ins Klinikum Kassel eingewiesen zu werden, und die Diagnose schnell zu bekommen. Es ist wichtig, dass man mehr Anlaufstellen schafft. Außerdem sollte man in der Schule über alternative Bildungswege nachdenken. Viele Kinder sind von Post Covid stark betroffen. Sie sollten nicht den Anschluss verlieren und eine Chance auf eine gute Zukunft haben“, unterstreicht Nina Bauer.