Unterwegs mit Kassels Notärzten
Als Notärztin Ramona Ossowski und Notfallsanitäter Mirco Neumann die Treppe hochkommen, ist die Besatzung des Rettungswagens schon im Schlafzimmer der alten Dame. Ihr Gesicht wirkt fahl, aber der Kreislauf scheint noch stabil. Sie bekommt schlecht Luft und Ramona Ossowski setzt ihr eine Maske auf, die beim Atmen hilft.
Dann geht alles sehr schnell. Die Patientin verdreht die Augen und der Körper verliert an Spannung. Die Notfallsanitäter greifen ihr sofort unter die Arme und legen sie auf den Fußboden im Flur. Die weiche Matratze würde die Reanimation erschweren. Das Team macht sich bereit für die Wiederbelebungsmaßnahmen, auf dem Monitor sind keine Lebenszeichen zu erkennen.
Ossowski schaut zu den Angehörigen in der Küche, die drei Meter vom Geschehen entfernt sitzen. Sie schaut sich eine unterschriebene Patientenverfügung an, die ihr gereicht wird. Die alte Dame möchte im Notfall keine intensivmedizinische Behandlung, doch das Papier ist für sie nicht bindend. Ossowski spricht mit der Familie und erfährt, dass die Patientin schon länger krank ist und oft vom Tod sprach. Sie hat jetzt wenige Sekunden, um eine Entscheidung zu treffen. Reanimieren oder den Wunsch der Patientin respektieren?
RAMONA OSSOWSKI ZIEHT DIE ANGEHÖRIGEN INS VERTRAUEN UND WÄGT MEDIZINISCH AB.
Ramona Ossowski zieht die Angehörigen ins Vertrauen und wägt medizinisch ab. „Wir hören auf“, sagt sie schließlich und macht sich behutsam mit dem Team daran, die Kabel und den Venenzugang abzunehmen. Es ist jetzt sehr still in der Wohnung. Sie heben die alte Dame zurück ins Bett, Ossowski schließt die Augen der Patientin und deckt sie zu. Trotz der Umstände ist es eine würdige Situation. Ossowski spricht noch lange mit den Angehörigen und erledigt die
Papierarbeit in der Küche. Niemand will in diesem Moment allein sein. Später wird sie einem Kollegen die ausgedruckten EKG-Daten der Patientin zeigen. „Richtige Entscheidung“, ist dessen Rückmeldung.
Für Ramona Ossowski, 32 Jahre alt und Anästhesistin am Klinikum Kassel, ist es der zweite Todesfall in dieser 24-Stunden-Schicht. Auch zuvor waren Angehörige vor Ort. Und auch dort geht sie einfühlsam mit den Menschen um. Andere würden sich zurückziehen, doch sie bleibt und macht den Verlust für den Moment erträglicher. Es ist eine Gabe, die man kaum erlernen kann. Dabei ist Ramona Ossowski eine eher zurückhaltende Person.
„In anderen Berufen kann man das Gleiche mit weniger Zeitaufwand verdienen“, wird sie später am Notarztstützpunkt des Klinikums sagen. Es klingt ein wenig trotzig, doch in Wahrheit wäre es keine Option für sie. Ramona Ossowski liebt diesen Job. Oder besser diesen Teil, denn Notärztin ist keine Hauptbeschäftigung. Als Anästhesistin steht sie im OP oder ist auf Intensivstationen tätig, doch der Rettungsdienst ist ihre Sache.
»Ich mag die Arbeit draußen, das Zusammenspiel mit dem Team«,
sagt Ossowski, die einen Doktortitel führt, im Namensschild aber darauf verzichtet. „Wann kommst du mal wieder zu uns?“, fragt eine Pflegekraft auf der Intensivstation C73, als Ossowski für eine Patientenverlegung dort erscheint. Solche Sätze fallen, egal wo man mit ihr auftaucht.
Torsten Müller (46) ist der ärztliche Leiter des Rettungsdienstes in Kassel und ebenfalls Anästhesist und Oberarzt am Klinikum. Mit gut zwei Jahrzehnten Erfahrung gehört er zu den erfahrensten Notfallmedizinern in Nordhessen. Müller ist uneitel, „schnell im Kopf“ und hat einen ebenso schnellen Humor. Im Einsatz hält er sich zurück, wenn er als Arzt nicht gebraucht wird, was in der Realität oft der Fall ist. Viele Notrufe stellen sich vor Ort als harmlos heraus. „Aber wenn es richtig zur Sache geht, dann sollte Torsten draußen sein“, sagt Ramona Ossowski ohne jegliche Anbiederung.
Diese Einschätzung bestätigt Notfallsanitäter Michael „Michel“ Siebert, der den Notarztstützpunkt des Deutschen Roten Kreuzes am Klinikum leitet.
Er berichtet von einem Einsatz, bei dem eine junge Frau aus dem zweiten Stock auf das Pflaster des Innenhofs gestürzt war (die Umstände wurden nie gänzlich geklärt). „Torsten hat ihr zwei Thoraxdrainagen gelegt und wir waren nach 40 Minuten in der Notaufnahme“, sagt Siebert mit hochgezogenen Augenbrauen. Soll heißen: Besser kann man es nicht machen. Die Frau überlebte den Sturz.
Eine Thoraxdrainage, also die lebensrettende Entlastung eines verletzten Lungenflügels, kommt im Notarzt-Alltag sehr selten vor. Daher erinnert sich Torsten Müller auch an diesen Einsatz. „Wir hatten ein gutes Team vom Rettungswagen und Michel war auch dabei“, sagt Müller und spielt seine Rolle eher runter.
Unter Notärzten, Rettungsdienstlern und in der Notaufnahme gibt es eine eigene Sprache, die immer humorig, aber auch derb sein kann. Es ist eine Bewältigungskultur unter Eingeweihten, die leichter von der Hand geht als ernsthafte Gespräche.
Über das Erlebte zu sprechen – oder eben zu lachen – ist besser als zu schweigen.
Wie viel verletzte Menschen, häusliche Gewalt und Suizide kann man erleben, ohne dass es Spuren hinterlässt? Der Retterhumor ist wie eine regelmäßige Therapiesitzung, nur ohne das Stigma.
In einer Branche, in der Frauen keine Seltenheit sind, der männliche Anteil jedoch überwiegt, genießt Ramona Ossowski Respekt. Wie schafft man das?
An einem frühen Morgen wartet sie in der Notaufnahme auf einen Chirurgen, der zur Sicherheit noch auf ihren Patienten schauen soll, der bei einem Verkehrsunfall nur leicht verletzt wurde. Zwei Notfallsanitäter der Feuerwehr Kassel, die den Patienten transportiert haben, sind ebenfalls mit im Raum. Es war eine ruhige Nacht, der Chirurg hat sich im Bereitschaftszimmer hingelegt und wird alarmiert. Es vergehen Minuten, bis der junge Arztkollege lässig um die Ecke biegt. Ramona Ossowski bleibt sachlich im Ton, als sie ihn begrüßt: „Ist dir eigentlich klar, dass wir hier auf dich warten?“ Damit hat der Chirurg nicht gerechnet. Er stammelt etwas von sofortigem Aufstehen, aber blickt nur in drei ausdruckslose Gesichter. Ramona Ossowski kostet den Moment nicht aus. Ebenso sachlich beginnt sie mit der Übergabe des Patienten. Ihre Nachricht ist unmissverständlich angekommen.
Notarzt Torsten Müller schmunzelt anerkennend, als er davon hört. „Ramona macht das insgesamt gut“, sagt Müller. Das ist Nordhessisch und bedeutet: Dr. Ramona Ossowski ist mit knapp drei Jahren Berufserfahrung schon eine sehr gute Notärztin. „Sie weiß, dass ich ihre Arbeit schätze“, schiebt Müller noch hinterher.
Um 5.03 Uhr, kurz vor Ende der Notarztschicht, springen erneut die Alarmmelder an. Ramona Ossowski schält sich aus ihrem Schlafsack, der für sie wie ein Stück Zuhause in der Klinik ist. Sie zieht Hose und Stiefel an, nimmt ihre Jacke und legt das Stethoskop um den Hals. Ihre Bewegungen sind um diese Uhrzeit wie automatisiert. Auf dem Weg aus der Tür greift sie nach zwei Einmalhandschuhen und ist in dreißig Sekunden am Notarzt-Einsatzfahrzeug (NEF). Die kühle Morgenluft hilft beim Wachwerden. Notfallsanitäter Kim Moses sitzt schon hinter dem Steuer. Er legt sich während der Nachtschicht nie hin. Die Adresse des Notrufs wird automatisch auf das Navigationsgerät übertragen.
„Verstanden“, antwortet er der Rettungsleitstelle, als sie den Einsatz übernehmen. Es wird das einzige gesprochene Wort bis zur Einsatzstelle bleiben. Die Nacht war zu kurz für Konversation. Das NEF rollt aus dem Klinikgelände, vorbei
an drei OP-Sälen, in denen zum ersten Mal in dieser Nacht kein Betrieb herrscht. Das Blaulicht springt an und es geht raus auf die jetzt menschenleere Mönchebergstraße. Eine ältere Dame hat in ihrer Wohnung Atemnot, Fahrzeit sechs Minuten. Kim Moses drückt aufs Gas.